Als Spitzenführungskraft ist es wichtig, allen die für sie relevanten Informationen zukommen zu lassen, so beschreibt Eva Wildfellner einen wichtigen Teil ihrer Arbeit als Kabinettsdirektorin in der Präsidentschaftskanzlei. Im Sinne einer modernen, krisenfesten Verwaltung wünscht sie sich auch eine höhere Transparenz bei Postenbesetzungen und mehr Frauen in leitenden Positionen.

Interview: Cornelia Ritzer
Fotos: Franziska Liehl

 

Seit Jahresanfang sind Sie Kabinettsdirektorin. Wie unterscheidet sich die Arbeit in Ministerien von jener in der Präsidentschaftskanzlei? Gibt es vielleicht etwas, das Sie dazulernen mussten – Stichwort:  Zeremoniell?

Wie bei jeder neuen Aufgabe muss man sich erst in die jeweiligen Abläufe einleben und einarbeiten. Das Ansehen und die bestmögliche Vertretung Österreichs in der Welt steht in unserem primären Fokus. In
der Präsidentschaftskanzlei muss man auf gewisse Abläufe und Prozesse achtgeben, die in meinen früheren Funktionen im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport in der Form vielleicht nicht oft gebraucht wurden.

Für mich ist die Arbeit trotzdem dieselbe. Es geht um bürgernahe, moderne Verwaltung und Serviceorientierung nach innen und nach außen, sowie die Unterstützung des Bundespräsidenten. Das ist meine Aufgabe als Kabinettsdirektoren und das steht für mich im Vordergrund. Aber natürlich sind Staatsbesuche etwas, das in einem Ministerium in dieser Form nicht vorkommt. Der Bundespräsident steht im Protokoll der Republik an erster Stelle.

Als Kabinettsdirektorin sind Sie ihm unmittelbar unterstellt. Hat das Auswirkungen auf Ihre tägliche Arbeit?

Auch als Generalsekretärin im BMKÖS war ich dem Bundesminister direkt unterstellt. In dieser Funktion war ich  unter anderem für die Gesamtabstimmung und Koordination der unterschiedlichen Sektionen zuständig. Die unmittelbare Unterstützung und Beratung der politischen Spitze bei der Umsetzung ihrer Vorhaben ist mir daher bereits vertraut. Es ist eine Schnittstellenfunktion – auch in die Organisation
hinein, zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Aufgaben in der Präsidentschaftskanzlei
sind vielfältig. Der Bundespräsident ist oberster Repräsentant und „Hüter“ unserer Republik. Deshalb
sind wir auch mit Fragen aus den unterschiedlichsten Rechts- und Themengebieten konfrontiert.

Im Büro von Eva Wildfellner ist das Bild mit der Aufschrift „Democracy“ (Demokratie, Anm.) ein absoluter Blickfang. Das Vertrauen der Menschen in die Demokratie zu fördern, sieht sie als eine zentrale Aufgabe der Verwaltung.

Sie werden als „erfahrene Verhandlerin von schwierigen Materien mit einer exzellenten Fähigkeit zur Zusammenarbeit“ beschrieben. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat als Arbeitsschwerpunkte seiner zweiten Amtszeit die Themen Klimakrise und Stärkung des Vertrauens in die Demokratie genannt. Was können Sie, in Ihrer Schlüsselfunktion, bei diesen Materien bewegen?

Ich sehe es als meine Aufgabe beziehungsweise als Aufgabe der Verwaltung, die politischen  Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger bestmöglich zu unterstützen und  Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dabei ist mir die Einbindung von Expertinnen und Experten wichtig. Wir sollten uns auch die Zeit nehmen, deren Vorschläge breit zu diskutieren und mit den Verantwortungsträgerinnen und -trägern in der Politik rückzukoppeln.

Die Verwaltung kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, einerseits mit ihrer Expertise, andererseits als „Brücke“ zu  Stakeholdern, Expertinnen und Experten und der Zivilgesellschaft. Hier kann ich mich einbringen und das sehe ich auch als eine meiner Aufgaben. Und die Vorbildfunktion, etwas nicht nur zu sagen, sondern auch umzusetzen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Nehmen wir den Bereich Klimaschutz: Der Bundespräsident nutzt auf seinen Reisen problemlos öffentliche Verkehrsmittel, wann immer es geht.

Als Beamtin haben Sie sich in den Büros mehrerer Ministerinnen und Minister parteiübergreifend einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Welche Kompetenzen sind in der Verwaltung von Bedeutung? Und was raten Sie jenen, die eine Karriere im öffentlichen Dienst anstreben?

Für mich ist die Loyalität dem Amt, dem Staat und seinen Aufgaben gegenüber maßgeblich. Ebenso Lösungskompetenz und Serviceorientierung. So habe ich meine Tätigkeit in den vergangenen Jahren angelegt und versucht, möglichst sachorientiert vorzugehen. Verwaltung soll ja kein Selbstzweck sein,
unser Anspruch ist, für die Menschen in Österreich da zu sein.

Das bedeutet aber auch Investition in die Verwaltung selbst: vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der Digitalisierung, einer sich verändernden Arbeitswelt die Dienststellen dabei zu unterstützen, erforderliche Veränderungsprozesse einzuleiten. Eine flexible, effiziente und digitale Verwaltung ist eine zentrale Voraussetzung für die Bewältigung der Herausforderungen der kommenden Jahre.

„Es geht um bürgernahe, moderne Verwaltung und Serviceorientierung nach innen und nach außen, sowie die Unterstützung
des Bundespräsidenten.“

Eva Wildfellner, Kabinettsdirektorin

Haben Sie das Gefühl, dieses Bild von der serviceorientierten Verwaltung kommt in der Öffentlichkeit auch so an? Oder überwiegt doch das einer parteipolitisch geprägten Beamtenschaft, etwa wenn es wieder Schlagzeilen über politisch motivierte Postenbesetzungen gibt? 

Ich hoffe, dass dieses Bild auch ankommt. Gerade die Pandemie und die Krise der letzten Jahre haben gezeigt, dass unsere Verwaltung gut funktioniert und dass wir in weiten Teilen sehr krisenfest sind. Nehmen Sie zum Beispiel Services wie die Finanzverwaltung. Die waren durchgehend aufrecht, weil wir bereits viel digitalisiert haben. Das ist etwas, worauf sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen können. Es ist notwendig, diese Services weiter auszubauen.

Wie erleben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst solche Diskussionen, dass Posten nicht nach Qualifikation besetzt werden, und wie reagiert man darauf?

Natürlich macht einen das betroffen, der Eindruck, das wäre gängige Praxis, ist aber falsch. Es geht doch darum, dass die jeweils bestqualifizierte Person den Job bekommt. Gerade im BMKÖS unter Vizekanzler
und Bundesminister Werner Kogler wurden zuletzt auch gesetzliche Änderungen im Ausschreibungsgesetz vorgenommen und einiges getan. Und es ist notwendig, diesen Weg weiterzugehen.

Es geht um transparente und nachvollziehbare Prozesse: öffentliche Ausschreibungen, Hearings und unabhängige Auswahlkommissionen, sodass eine allfällige Einflussnahme weitestgehend ausgeschlossen werden kann. Beispielsweise indem man die Vorsitzende oder den Vorsitzenden der Kommission extern besetzt oder man abgeht von „Ad-hoc“ Kommissionen. Dies gilt umso mehr bei der Besetzung von Spitzenpositionen.

Sie sind die zweite Frau, die die Präsidentschaftskanzlei leitet. Seit Sie 2007 in den Bundesdienst eintraten, gab es mit Brigitte Bierlein auch eine Bundeskanzlerin einer Expertenregierung. Wen haben Sie als  Wegbereiter oder Wegbereiterin für andere Frauen in Spitzenpositionen erlebt?

In meiner Karriere hatte ich das Glück, dass ich mit vielen Männern wie auch Frauen zusammengearbeitet habe, die Frauen in ihrer beruflichen Laufbahn gefördert haben. Ich wurde Kabinettschefin der damaligen Frauen- und Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser. Für mich persönlich war sie eine Wegbereiterin. Sie war eine unerschrockene Frau und Politikerin, hat sich kein Blatt vor den Mund genommen, das hat mich beeindruckt.

Oder Klimaschutzministerin Leonore Gewessler: In den Unternehmen, an denen das Klimaschutzministerium beteiligt ist, ist der Frauenanteil seit Amtsantritt von Ministerin Gewessler
bereits von 37 auf rund 50 Prozent gestiegen. Sie zeigt vor, dass es geht und dass es viele kompetente und hoch qualifizierte Frauen gibt.

„Heute ist Flexibilität gewünscht. Doch auch der öffentliche Dienst ist um einiges flexibler geworden seit der Zeit, als ich begonnen habe.“

Eva Wildfellner, Kabinettsdirektorin

Soll dieser Wandel Richtung mehr Frauen in Leitungsfunktionen überhaupt noch thematisiert werden – oder sollte er eigentlich bereits alltäglich sein?

Das muss weiterhin thematisiert und vorangetrieben werden. Denn wie man sieht, ist es notwendig und da ist noch Luft nach oben. Im Bundesdienst arbeiten derzeit knapp über 43 Prozent Frauen, in Spitzenfunktionen – ich rede von Sektionsleitungsposten – waren es laut Bericht über das Personal des Bundes 2022 (die Zahlen beziehen sich auf Stand Dezember 2021, Anm.) knapp 33 Prozent. Da besteht auf jeden Fall noch Aufholbedarf.

Es gibt bereits zahlreiche Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung im öffentlichen Dienst. Zum
Beispiel das gesetzlich verpflichtende Frauenförderungsgebot, die Offenlegung von Ausschreibungen oder die Erstellung von Einkommensberichten. Im öffentlichen Dienst ist der GenderPay Gap wegen der gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit mit knapp über acht Prozent besser im Vergleich zur Privatwirtschaft. Doch wir dürfen nicht lockerlassen.

Die Notwendigkeit, ein attraktiver Arbeitgeber für junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sein, gilt als eine große Herausforderung für viele Branchen, aber auch für den öffentlichen Sektor. Was hat Sie dazu motiviert, nach dem Jusstudium in einem Ministerium zu arbeiten?

Für mich ist die Arbeit im öffentlichen Dienst eine extrem schöne Aufgabe. Es ist ein Job, wo man mitgestalten kann und serviceorientiertes Arbeiten für die Menschen gefragt ist. Es geht um Fragen, die das Wohl der Bevölkerung, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft betreffen, das gemeinsame Bewältigen von Herausforderungen, und darum, Antworten anzubieten. Ich empfinde das als sehr sinnstiftend. Das war auch mein Antrieb, nach dem Studium in den Bundesdienst zu gehen. Und ich habe das nie bereut. Die Möglichkeit der Mitgestaltung gibt es überall – egal, in welchem Ministerium. Dazu kann ich nur jede und jeden ermutigen.

Und wie kann man junge Menschen dazu motivieren, im Staatsdienst zu arbeiten?

Früher war die Jobsicherheit eine Motivation. Ich erlebe bei jungen Menschen jedoch, dass das mittlerweile keine große Rolle mehr spielt. Heute ist Flexibilität gewünscht. Doch auch der öffentliche Dienst ist um einiges flexibler geworden seit der Zeit, als ich begonnen habe. Ein Beispiel ist die Möglichkeit, vermehrt im Homeoffice zu arbeiten, oder der problemlose und individuelle Anspruch auf Karenz für beide Elternteile. Ich glaube, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für viele junge Menschen ein Thema ist. Und diese ist im öffentlichen Dienst für Frauen und Männer gleichermaßen möglich. Auch die Flexibilität innerhalb des Bundesdienstes ist vermehrt gegeben und wird zunehmend wahrgenommen. Man hat so die Möglichkeit, auch andere Tätigkeitsfelder in unterschiedlichen Ministerien kennenzulernen und in andere Bereiche zu wechseln.

Einblicke in die Hofburg.

Wie sieht der Arbeitsalltag des Bundespräsidenten aus? Und was zählt zu seinen Aufgaben? Antworten darauf und Infos zur Arbeit der Präsidentschaftskanzlei finden sich auf der Website des Staatsoberhaupts.

www.bundespraesident.at
Die medizinische Versorgung in Österreich hat einen guten Ruf. Doch Spitäler, Ambulanzen und Arztpraxen haben mit Unterfinanzierung und Personalmangel zu kämpfen. Die Pandemie machte diese Leerstellen im System noch sichtbarer. Doch woran krankt das heimische Gesundheitswesen? Ein Überblick.

Text: Cornelia Ritzer
Illustrationen: Lena Jansa

 

Vertreterinnen und Vertreter von Bund, Ländern und Gemeinden treffen sich, um übers Geld zu sprechen: Das ist der Finanzausgleich. Die Wünsche, was mit den aktuell rund 90 Milliarden Euro Steuergeld finanziert werden soll und muss, sind immer vielfältig – und werden nach der Pandemie und angesichts der hohen Inflation und Teuerung sowie notwendiger Anpassungen an den Klimawandel noch dringlicher formuliert. Im Fokus der Verhandlungen, die kurz vor Weihnachten 2022 gestartet sind und bis kommenden Herbst dauern werden, stehen die Themen Gesundheit und Pflege. Darüber, wie diese für die Menschen so wichtigen Bereiche nachhaltig finanziert werden können, zerbrechen sich Politik sowie Expertinnen und Experten den Kopf.

Klar ist: Das österreichische Gesundheitssystem gilt als eines der besten in Europa. Die Menschen können mit Problemen zur Hausärztin und zum Hausarzt gehen, diese überweisen bei Bedarf an Spezialisten. Und die Krankenhäuser bieten eine breite Palette von Leistungen und moderne Technologien. Aktuell zeigt sich jedoch deutlich, dass das Gesundheitssystem unter Druck ist, nicht wenige sprechen von einer Krise.

Hilferufe aus den Spitälern

Die Lage ist alarmierend: Im April 2023 wurde öffentlich, dass knapp zehn Prozent der Betten in Oberösterreichs Krankenhäusern gesperrt sind – wegen Personalmangel. Das sind in absoluten Zahlen 720 Spitalsbetten, die nicht für Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen, weil nicht genug Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte im Dienst sind. Der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband  (ÖGKV) hatte kurz zuvor Alarm geschlagen und gewarnt: „Das Gesundheitssystem bricht zusammen.“ Anlass für diese drastische Formulierung war, dass zwei Patienten zu lange auf die Versorgung in einer  Notfallambulanz hatten warten müssen und verstorben waren – vom Personal vorerst „unbemerkt“, wie es hieß.

Das Gesundheitssystem steht unter Druck. Wie es verbessert und dauerhaft finanziert werden kann, ist derzeit Thema bei den Finanzausgleichsverhandlungen.

Doch nicht nur die Beschäftigten fehlen im Gesundheitssystem, auch wichtige Medikamente sind in jüngster Zeit wegen Produktionsproblemen, fehlender Rohstoffe oder Exportbeschränkungen häufig knapp geworden. Laut einer Marketagent-Umfrage Ende Jänner 2023 hat mindestens jede sechste Person in Österreich selbst oder im Umfeld die Erfahrung gemacht, dass ein Medikament nicht erhältlich war. Dass Antibiotika, Schmerzmittel, Krebsmedikamente und Co. knapp sind, beschäftigt laut Umfrage vor allem die weibliche Bevölkerung: Vier von zehn Frauen machen sich sehr oder eher große Sorgen deswegen.

Wie verlässlich ist also die medizinische Versorgung in Österreich? Das fragen sich viele. Der im September 2022 präsentierte Austrian Health Report des Instituts für empirische Sozialforschung (IFES) untermauert das mit Zahlen. Demnach sind 56 Prozent der Bevölkerung „zufrieden mit dem Gesundheitssystem“. Das ist zwar die Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher (befragt wurden im Auftrag des Pharmaunternehmens Sandoz 800 in Österreich lebende Personen ab 18 Jahren, telefonisch und online),  das Ergebnis sei aber überraschend, sagt IFES-Geschäftsführer Reinhard Raml. Aus Studien der  vergangenen Jahre kenne man nämlich eine höhere Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem, so der Sozialforscher: „In Österreich haben wir eine gute Versorgung, und wir sind es gewohnt, dass diese auch für alle funktioniert.“

„Aus Studien der vergangenen Jahre kennen wir eine höhere Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem.“

Reinhard Raml, IFES-Geschäftsführer

Doch nun seien „etliche Fragezeichen aufgetaucht“, etwa die Verschiebung von OP-Terminen, der sichtbar gewordene Personalmangel oder die Schwierigkeit, eine Ärztin oder einen Arzt zu finden, die oder der noch neue Patientinnen und Patienten aufnimmt. Das beschäftige die Menschen, meint Raml. Auch die Engpässe bei der Verfügbarkeit mancher Medikamente seien ein Grund, warum die bisher immer große Zufriedenheit der Österreicherinnen und Österreicher mit dem Gesundheitssystem stark leidet. „Diese hohe Dynamik beobachten wir seit etwa drei Jahren“, erklärt der IFES-Geschäftsführer. Ob und wann „Ruhe einkehrt“, werde man weiter beobachten.

Verschiedene Zuständigkeiten

„Wir haben tatsächlich ein sehr gutes Gesundheitssystem“, sagt die Ökonomin Maria M. Hofmarcher-Holzhacker. „Denn die Wahrscheinlichkeit, dass in Österreich schwere Erkrankungen dank des Gesundheitssystems überlebt werden, ist sehr hoch.“ Probleme würden sich bei chronischen Krankheiten oder beim Bedarf an langfristiger Betreuung ergeben: „Diese Versorgung kann nicht in dem Umfang geleistet werden, wie es oft notwendig und am kostengünstigsten wäre.“ Problematisch sei vor allem die Finanzierung des Systems, so Hofmarcher-Holzhacker.

Die Expertin für Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme spricht damit eine Struktur an, die von  geteilten Zuständigkeiten geprägt ist. So ist der Bund für die Gesundheitspolitik insgesamt und für das Grundsatzgesetz für die Spitäler zuständig, wesentliche Bereiche der Gesundheitsversorgung liegen in
der Kompetenz der Länder. Sie vollziehen die Ausführungsgesetze für Spitäler und sind für die Pflege verantwortlich, und die Sozialversicherung nimmt die Bereitstellung von Vertragsleistungen im
niedergelassenen Bereich, von Medikamenten und Heilbehelfen sowie von Rehabilitation wahr.

Dieses Zusammenspiel von Bund, Ländern – die Hofmarcher-Holzhacker als „sehr starke und autonome Player“ beschreibt – sowie der für die Kassenmedizin zuständigen Sozialversicherung verläuft naturgemäß nicht reibungslos. Hofmarcher-Holzhacker: „Seit Jahrzehnten haben wir das Problem, dass die Akteurinnen und Akteure in ihren Silos der Zuständigkeit agieren.“ Eine Folge davon sei, „dass viele Patientinnen und Patienten im Dschungel der Zuständigkeiten herumirren und oft keine adäquate Versorgung finden oder einen Behandlungstermin bekommen“. Und: Trotz zahlreicher Reformen und Bemühungen in den letzten 20 Jahren werde „dieses strukturelle Problem seit Jahren nicht gelöst“.

Ineffizienzen als Problem

Das sei vor allem deshalb schade, sagt die Expertin, weil Österreich auch im internationalen Vergleich sehr viel Geld für Gesundheit ausgibt. Laut Statistik Austria (Stand: 2021) fließen jährlich 38,48 Milliarden Euro in Österreichs öffentliches Gesundheitssystem. Pro Kopf belaufen sich die Gesundheitsausgaben auf 4.100 Euro, damit liegen wir EU-weit an dritter Stelle. Die durchschnittlichen Ausgaben in Europa betragen 3.200 Euro. „Das ist auch in Ordnung so, denn Österreich ist ein reiches Land. Aber wir erzielen nicht die Ergebnisse, die man sich bei diesen hohen Ausgaben erwarten würde“, sagt Maria M. Hofmarcher-Holzhacker. Es bestünden „verschiedene strukturelle Probleme“ im Gesundheitssystem, etwa bei der Diabetesversorgung.

„Seit Jahrzehnten haben wir das Problem, dass die Akteurinnen und Akteure in ihren Silos der Zuständigkeit agieren.“

Maria M. Hofmarcher-Holzhacker, Ökonomin

Wie sehen diese Ineffizienzen konkret aus? 2013 wurden im Rahmen der partnerschaftlichen Zielsteuerung  nach der die Gelder aus Bund, Ländern und Sozialversicherung zur gemeinsamen Steuerung des niedergelassenen und des Spitalsbereichs virtuell zusammenfließen – Indikatoren entwickelt, anhand derer überprüft werden soll, ob bestimmte Versorgungs- und Qualitätsziele erreicht werden. Bund, Länder und Sozialversicherungsträger arbeiten also nicht nur bei der Finanzierung zusammen, sondern sollten sich auch bei der Umsetzung gegenseitig unterstützen. Dazu gehört der Ausbau des niedergelassenen Bereichs, der günstiger als Spitäler arbeitet und die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten ist.

Das Monitoring der Zielsteuerung sei „ganz gut gelungen“, so Hofmarcher-Holzhacker. Seit 2013 gilt aber auch ein Kostendämpfungspfad, der die Ausgaben am angenommenen BIP-Wachstum orientiert und damit Mehrausgaben zur Finanzierung des Gesundheitssystems einschränkt. „Dieser Kostenpfad wurde 2017 noch einmal festgezurrt“, erklärt die Gesundheitsökonomin. Das Gesundheitssystem habe sich an den Pfad gehalten, jedoch mit der Folge, „dass ihm Mittel entzogen wurden und es eine Unterfinanzierung gibt, weil der Kostenpfad nicht berücksichtigt, was der Versorgungsbedarf ist und welche Mittel für den technischen Fortschritt notwendig sind, um eine hochqualitative Versorgung weiterhin allen zu bieten. Und das kritisiere ich sehr.“

Maria M. Hofmarcher-Holzhacker hat Grundlagen für diesen Kostenpfad entwickelt, erzählt sie: „Ich dachte, das ist eine gute Möglichkeit, dem Gesundheitswesen Mittel zuzuführen und trotzdem nachhaltig zu bleiben.“ Heute sieht sie ihn kritisch. Zwar könne man „nicht endlos Geld ausgeben für Gesundheit, aber dass man die Finanzierung dumpf an die Entwicklung der Wirtschaftsleistung bindet, war ein Fehler. Und den muss man korrigieren.“ Der Finanzausgleich sei nun ein „Fenster“ für die Gestaltung eines  „großzügiger ausgestatteten Kostenpfads“. Ein solcher sei nötig, um die künftigen Herausforderungen zu meistern – etwa eine immer älter werdende Gesellschaft, aber auch die durch Zuwanderung wachsende Bevölkerung.

Frauen als Stützen der Branche

Die Gesundheitsökonomin betont zudem den Wertschöpfungsbeitrag, den der Bereich Gesundheit für die Wirtschaft leisten könne, dieser werde jedoch „systematisch ignoriert oder unterschätzt“. Hofmarcher-Holzhacker: „Wir müssen erkennen, dass wir einen Bereich haben, der viel Geld kostet, aber strategisch bedeutsam ist, weil er Beschäftigung – vor allem von Frauen – sichert.“ Dazu brauche es aber auch Investitionen und gute Gehälter für Frauen, deren Anteil im Gesundheits- und Sozialwesen 64 Prozent beträgt: „In keinem anderen Bereich sind die patriarchalen Strukturen so spürbar. Ich bin dafür, dass die nichtmedizinischen Beschäftigten im Gesundheitswesen und vor allem in der Pflege so viel verdienen wie die Metaller.“ Letztere haben einen Frauenanteil von lediglich 13 Prozent. Würden beide Branchen die gleichen Erhöhungen nach den diesjährigen Kollektivvertragsverhandlungen erhalten, wäre das ein Gehaltsplus von rund 3.000 Euro pro Jahr für die Gesundheits- und Sozialberufe.

Und was hat die Coronavirus-Pandemie mit der derzeitigen Situation zu tun, mit den langen Wartezeiten, mit dem Personalmangel? Die aktuelle Krise wäre auch ohne Corona entstanden, denn sie habe schon früher begonnen, sagt Hofmarcher-Holzhacker: „Als die Pandemie kam, waren wir schon sehr müde im Gesundheitssystem. Und jetzt sind wir alle erschöpft.“ Was nun schlagend werde, sei der demografische Wandel: Viele der Beschäftigten gehen demnächst in Pension. Ebenso schwer wiegen – neben der Arbeitsverdichtung, die durch Spezialisierungen in der Medizin verstärkt wird – die Arbeitsbedingungen. Vor allem die 12-Stunden-Dienste kritisiert Hofmarcher-Holzhacker: „Diese Dienstzeiten sind für das nichtmedizinische Personal, das immerhin 80 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen ausmacht, unerträglich. Das kann man vielleicht zehn Jahre machen, dann brennt man aus.“ Die Expertin hofft, dass sich die Dienstpläne „schon aufgrund der demografischen Situation und der Attraktivierung des Berufs“ ändern.

Trotz allem ist Hofmarcher-Holzhacker überzeugt, dass die Qualität des Gesundheitssystems bei den Patientinnen und Patienten in Österreich ankommt und die Menschen zufrieden mit derBetreuungsqualität sind. Dass die Finanzierung auf bessere Beine gestellt wird, ist ihre große Hoffnung für die laufenden Finanzausgleichsverhandlungen. Ob und wie Verbesserungen gelingen, auch in der Pflege, wird man in wenigen Monaten sehen. Die Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte und das übrige Gesundheitspersonal in Österreichs 264 Spitälern, in den Ambulanzen sowie Ordinationen werden währenddessen weiterarbeiten. Trotz Erschöpfung.

Gesundheitsreform.

2013 einigten sich Bund, Länder und Sozialversicherungsträger auf ein partnerschaftliches Zielsteuerungssystem zur Planung, Organisation und Finanzierung der österreichischen Gesundheitsversorgung. So soll die nachhaltige Finanzierung und langfristige Stärkung des Gesundheitswesens sichergestellt werden. Im Fokus steht die bessere Abstimmung zwischen den Versorgungsbereichen.

Über die Gesundheitsreform
Sinkende Glaubwürdigkeit trifft wachsendes Ohnmachtsgefühl: Was ist los mit der Demokratie in Europa? Woran leidet sie, welche Innovationen braucht sie? Ein Gespräch zwischen Andreas Treichl, Präsident des Europäischen Forums Alpbach, und der Politikwissenschaftlerin Daniela Ingruber.

Interview: Clemens Stachel
Fotos: Marion Pertschy

 

Herr Präsident Treichl, was war das letzte Volksbegehren, das Sie unterschrieben haben?

Andreas Treichl: Ehrlich gestanden kann ich nicht sagen, ob ich jemals ein Volksbegehren unterzeichnet habe. Anfang der 1980er Jahre gab es eines gegen den Bau eines Konferenzzentrums in Wien. Ich fand das damals so absurd, dass ich für mich beschlossen habe: An so etwas möchte ich mich nicht beteiligen.

Und Sie, Frau Ingruber?

Daniela Ingruber: Das letzte, das ich unterschrieben habe, war das zum Klimaschutz vor drei Jahren. Ich  hatte allerdings nicht das Gefühl, dass ich damit etwas bewirke. Volksbegehren sind einfach ein veraltetes Instrument der Demokratie. Außerdem verzweifle ich regelmäßig daran, wie wenig die Menschen Bescheid wissen über die Inhalte von Volksbegehren. Man bekommt in der Regel keine verlässliche Information darüber, es sei denn, man recherchiert selbst.

„Reinforcing Democracy in Europe“ lautet ein Schwerpunkt des diesjährigen Europäischen Forums  Alpbach. Warum braucht die Demokratie in Europa einen Anschub?

Treichl: Wenn wir uns die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ansehen, bemerken wir in manchen dieser Länder einen besorgniserregenden Trend: Demokratische Politikerinnen und Politiker agieren, sobald sie an der Regierung sind, zunehmend autokratisch. Wir haben mit Ungarn und Polen
zwei Beispiele dafür in unmittelbarer Nachbarschaft. In beiden Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten ein stabiler Mittelstand entwickelt, was eigentlich eine der Grundlagen einer funktionierenden Demokratie wäre. Trotzdem driften diese Gesellschaften zumindest teilweise in Richtung Autokratie. Eine andere Entwicklung, die wir in ganz Europa beobachten: Regierungen, die den Wohlstand ihrer Länder gesichert oder sogar erhöht haben, wurden und werden brutal abgewählt zugunsten von populistischen Parteien. In Alpbach stellen wir uns die Frage: Was können wir, was kann die Zivilgesellschaft gegen eine drohende Entdemokratisierung in Europa tun? Welche Werkzeuge der Demokratie gehören erneuert? Können wir  neue erfinden?

Andreas Treichl, Aufsichtsratsvorsitzender der Erste Stiftung, ist seit 2020 Präsident des Europäischen Forums Alpbach. Das EFA findet heuer von 19. August bis 2. September statt und steht unter dem Jahresmotto „Bold Europe“ – also „mutiges Europa“.

Was sind die strukturellen Gründe dieser Demokratiekrise?

Ingruber: In Österreich müssen wir uns um die demokratischen Strukturen, denke ich, keine Sorgen machen. Viel eher um das verschobene Berufsbild des Politikers und der Politikerin. Man sollte sich wieder vergegenwärtigen: Es handelt sich hier um eine Dienstleistung an der Gesellschaft. Gerade in einer Zeit, in  der wir mit großen Krisen konfrontiert sind, bräuchten wir Politikerinnen und Politiker, die in größeren Zusammenhängen und über die Legislaturperiode hinaus denken können. Dieser Zugang zu Politik kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen ihn auch entsprechend honorieren. Populistische Parteien gründen ihren Erfolg ja auf einem Mangel an politischer Bildung und an kritischer Medienkompetenz in der Bevölkerung. Beide sollten längst Hauptfächer in den Schulen sein, gleichgestellt mit Deutsch oder Mathematik.

Das symbolträchtigste Instrument der modernen Demokratie, das Parlament, kommt ja aus einer Zeit vor E-Mails, Online-Votings und Zoom-Konferenzen. Könnte man die Volksvertretung heute nicht viel effizienter organisieren? 

Treichl: Lassen Sie mich eine Parallele zur Wirtschaft ziehen: Man braucht heute auch keine Börsen als physische Orte mehr, um Geschäfte zu machen. Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass man irgendwann einmal auch das Parlament als Ort nicht mehr so benutzt wie heute. Vielleicht verlegt man
es ja bald zu 100 Prozent ins Homeoffice (lacht).

Ingruber: (lacht) Eine Schreckensvision! Ich sehe das Parlament selbst nicht aus der Zeit gefallen. Im Gegenteil, das Problem in Österreich ist  doch, dass der Parlamentarismus in den letzten Jahren massiv geschwächt worden ist. Das Parlament ist zu einem Ort geworden, an dem nur noch abgesegnet oder – von der Opposition – widersprochen wird, was die Regierung ihm vorlegt. Das Parlament muss viel
selbstbewusster werden, selbst initiativ  Gesetzesvorschläge einbringen, als eine echte Interessenvertretung der Gesellschaft agieren.

Daniela Ingruber ist Politikwissenschaftlerin an der Universität für Weiterbildung Krems. Von 2018 bis 2023 war sie Teil des dort verankerten Austrian Democracy Lab. Sie forscht vor allem zu den Themen Demokratie, Medien und Krieg.

Also ein Plädoyer gegen Parteien, wie wir sie zurzeit kennen?

Ingruber: Ja, die Parteien, so wie sie sich heute präsentieren, sind im Gegensatz zum Parlament definitiv veraltet.

Treichl: Wobei es in der Regel die Regierungsparteien sind, die sich das Parlament unterordnen. Und das wäre für mich schon der erste Schritt zur Autokratie. In unserem westlichen Nachbarland Schweiz haben wir derartige Phänomene gar nicht. Es gibt mehr Mitbestimmung der Bevölkerung, das Wohlstandsniveau ist höher – da kann man sich fragen, warum ist das so? Eine Antwort wäre: Außerhalb der Schweiz kennt niemand einen Schweizer Politiker. Das dortige System beschränkt etwaige Machtgelüste Einzelner. Politik als echter Dienst an der Bevölkerung wird viel ernster genommen.

Ingruber: Wir können uns auch an Norwegen ein Vorbild nehmen, einem Land, das im Demokratie-Index weltweit stets an erster Stelle steht. Politikerinnen und Politiker werden dort nicht als Elite  wahrgenommen, und die Parlamentsparteien sind es gewohnt zu kooperieren.

In der politischen Debatte in Österreich wurde in den letzten Jahren an Grundpfeilern der Demokratie gesägt: Die Menschenrechte oder das Asylrecht werden zur Verhandlungsmasse der Tagespolitik. Sind das Alarmsignale einer Entdemokratisierung? Oder muss eine gefestigte Demokratie derartige Diskussionen
„aushalten“?

Ingruber: Hans Kelsen hat gesagt: Die Demokratie ist das einzige Regierungssystem, das es aushalten muss, herabgewürdigt und bekämpft zu werden. Nicht nur das – sie muss Widerspruch sogar aktiv ermöglichen. Bei Grund-und Menschenrechten bin ich allerdings sehr empfindlich. Eine der wenigen Verfassungsänderungen, die ich anregen würde, wäre ein Grund- und Menschenrechtskatalog gleich nach dem Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes.

Treichl: Ich denke, dass diese bewusste Zuspitzung der politischen Debatte eine Folge der sozialen Medien ist. Politikerinnen und Politiker sind heutzutage 24 Stunden am Tag exponiert. Sie orientieren sich zunehmend daran, was die Menschen hören wollen und womit sie in die Medien kommen, als an ihren echten Überzeugungen und daran, was das Richtige wäre.

Ingruber: Auch diese Frage führt uns also zum Spannungsfeld Medien/Politik zurück. Der Druck auf Politikerinnen und Politiker nimmt durch Social Media enorm zu, wie ich aus meinen  Forschungsinterviews weiß. Viele von ihnen erzählen mir, dass sie immer heftiger beschimpft werden – vor allem Frauen. Die ziehen sich dann oft wieder zurück. Wenn wir als Gesellschaft es nicht schaffen, diese Dynamik der Politikerbeschimpfungen einzudämmen, werden wir bald nur noch jene Leute in der Politik haben, die gar nichts zum Guten verändern wollen, sondern sich ausschließlich um die eigene Beliebtheit sorgen.

Treichl: Diese Entwicklung hat sich mittlerweile auf das „echte Leben“ ausgebreitet – bis hinunter auf die Gemeindeebene. Es gibt Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die den gesellschaftlichen Druck nicht mehr aushalten wollen und daher zurücktreten.

Ingruber: Eine Demokratie ist immer nur so stark, wie die Bevölkerung es zulässt. Ich bemerke in meiner  Forschung die Tendenz, dass immer mehr Menschen sich wieder einen Diktator an der Spitze des Staates vorstellen könnten, „einen wie Putin“. Es ist völlig verrückt. Gleichzeitig sind diese Menschen aber
nicht verrückt oder dumm, sondern sie folgen einfach aufgeheizten Erzählungen. Diese Social-Media-Welt der Verschwörungstheorien und Fake News ist wirklich eine riesige Herausforderung für unsere Demokratie.

„Politische Bildung und kritische Medienkompetenz sollten längst Hauptfächer in den Schulen sein.“

Daniela Ingruber

Ist es nicht ein demokratiepolitisches Problem, dass in Österreich immer weniger Menschen wählen dürfen – bei wachsender Bevölkerung? Sollte man also das Wahlrecht auf hier lebende Menschen ohne Staatsbürgerschaft ausweiten? Oder den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern?

Ingruber: Beides wäre dringend notwendig, das ist überhaupt keine Frage.

Treichl: Die heutige Situation ist absurd, natürlich muss man sie ändern.

Ein weiterer Krisenaspekt der Demokratie ist ökonomischer Natur: Die Zahl der Menschen, die sich „abgehängt“ fühlen, steigt in den westlichen Ländern.

Treichl: Die Situation in den USA ist etwas drastischer als in Europa: Daher sind die Spaltungstendenzen der Gesellschaft noch etwas ausgeprägter als hier. Wir müssen achtgeben, dass wir diese Entwicklung einbremsen können. Dabei spielt auch das Auseinanderklaffen der Wohlstandsschere eine Rolle und wir müssen in Europa aufpassen, dass der breite Mittelstand nicht zum großen Verlierer der nächsten Jahrzehnte wird. Und das ist auch in demokratiepolitischer Hinsicht wichtig, weil ein breiter Mittelstand die beste Basis für eine Demokratie ist. Die Vermögensverteilung driftet rasant auseinander und damit auch die Gesellschaft. Es ist eine Entwicklung, die auch Europa betreffen wird, und die so schnell geht,
dass wir sie vielleicht gar nicht richtig wahrnehmen.

Ingruber: Die Menschen brauchen einen gewissen Wohlstand, um über Demokratie nachdenken und sie auch mit Leben erfüllen zu können. Es geht hier gar nicht um Reichtum, sondern um ein Gefühl der Fairness und um Instrumente der Transparenz: Wie viel verdienen einzelne Berufe, und warum?
Es gibt so viele Menschen, die viel zu wenig verdienen, gemessen an den Leistungen, die sie für die  Gesellschaft erbringen. Eine boomende Wirtschaft allein macht aber Demokratie nicht
besser. Das Wichtigste ist Bildung: es den Menschen zu ermöglichen, zu selbständigem Denken und zu gesellschaftlicher Teilhabe zu finden.

„Manche jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa driften in Richtung Autokratie.“

Andreas Treichl

Die Digitalisierung kam bis hierhin eher als Gefahr vor. Aber ist sie nicht auch eine große Chance für die Demokratie?

Ingruber: Sie ist zweifellos beides! Ich bin begeistert von neuen demokratischen Prozessen, die über  digitale Wege ermöglicht, beschleunigt oder verbreitet werden: Bürgerräte etwa sind ein tolles Beispiel für Partizipation abseits von Wahlen. In Österreich hatten wir letztes Jahr den „Klimarat“ aus 100 Bürgerinnen und Bürgern, der aus physischen Treffen und digitalen Elementen bestand. Derartige Zusammenkünfte von politisch engagierten Menschen wären sicher auch auf EU-Ebene möglich – da würde das natürlich  hauptsächlich über digitale Tools laufen.

Bürgerräte wären also ein alternatives Element zur parteienzentrierten Demokratie.

Ingruber: Genau. Große Teile der Bevölkerung wollen sich ja politisch engagieren, finden aber oft nicht die Foren, in denen sie sich einbringen könnten. Es fällt vielen jungen Menschen immer schwerer, sich mit einer der aktuellen Parteien zu identifizieren. Und wenn sie doch zu einer dazugehen, sind sie oft von deren starren internen Strukturen enttäuscht oder fühlen sich erst recht nicht gehört.

Treichl: Eine der großen Stärken des Forums Alpbach ist es, der nächsten Generation eine Plattform zu bieten, damit ihre Stimme gehört wird. Beim Austausch mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten, die nach Alpbach kommen, merkt man sehr wohl, dass junge Menschen ein großes Interesse daran haben, Politik mitzugestalten. Für ein besonders zukunftsorientiertes Beispiel war etwa das Forum Alpbach die Initialzündung: „Love Politics“, eine Initiative, die mit der Apolitical Foundation verbunden ist. Das ist eine neue Organisation, die jungen Menschen in Kursen das politische Handwerkszeug mitgibt, um im 21. Jahrhundert gute Politik zu machen. Innerhalb kurzer Zeit hatte die Initiative bereits 900 Anmeldungen.
Junge Menschen sind an einer neuen, konstruktiven Art des Politikmachens interessiert. Demokratie darf nicht langweilig sein, sondern muss Freude machen, sonst hat sie keine Chance in der Zukunft.

Europäisches Forum Alpbach.

Seit 1945 treffen sich Entscheidungsträgerinnen und Ideengeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einmal im Jahr in Alpbach. Das Tiroler Bergdorf hat deshalb den Beinamen „Dorf der Denker“ erhalten.

www.alpbach.org
Junge Menschen mit Interesse an der Natur können sich im Freiwilligen Umweltjahr nicht nur für den Umweltschutz einsetzen. Sie sammeln dabei auch wertvolle Erfahrungen für ihre Zukunft.

Text: Rainer Brunnauer-Lehner

 

Alltag, das hieß für Xaver Kopf und Benjamin Schedl noch vor einem Jahr, morgens pünktlich ab acht Uhr im Klassenraum zu sitzen, Vokabel auswendig zu lernen oder penibel Angaben von Übungsbeispielen zu studieren. Xaver (19) kommt eigentlich aus Salzburg, Benjamin (20) aus dem Burgenland. Mit der Matura haben die beiden erst vor wenigen Monaten die Routine der Schule hinter sich gelassen. Dass sie jetzt gemeinsam in Wien an  einem Schreibtisch sitzen und dabei mit den Gedanken trotzdem immer ein bisschen in der Natur sind, liegt daran, dass sie sich für ein Freiwilliges Umweltjahr entschieden haben.

Ernst des Lebens

Xaver und Benjamin waren heuer schon viel draußen unterwegs, haben mit Ferngläsern Vögel beobachtet, bestimmt und in Listen dokumentiert. Sie haben künstliche Storchen-Nester in Bäume hochgezogen, auf Veranstaltungen über die Vogelwelt erzählt und mitgeholfen, Daten eines Citizen-Science-Projekts auszuwerten. Die beiden leisten ihren Freiwilligendienst bei der Vogelschutzorganisation BirdLife Österreich: „Verglichen mit der Schulzeit hat mein Leben eine 180-Grad-Wende genommen“, sagt Xaver.

Insgesamt zehn Monate werden er und sein Kollege Benjamin für die NGO arbeiten. Dafür erhalten  sie neben unterschiedlichen Fortbildungen ein kleines Taschengeld und sind voll sozialversichert.
Außerdem ersparen sie sich durch das Freiwillige Umweltjahr den Präsenz- oder Zivildienst. Das Angebot erfreut sich wachsender Beliebtheit  unter jungen Österreicherinnen und Österreichern. Mittlerweile entscheiden sich jährlich fast 100 Jugendliche für den Freiwilligendienst.

Die Möglichkeiten sind vielfältig. Mehr als 70 Organisationen bieten in über 90 Einsatzstellen in ganz  Österreich Einsatzplätze an. Die Themengebiete reichen von allgemeinem Umweltschutz und Umweltbildung sowie Natur- und Artenschutz über ökologische Landwirtschaft und Tierschutz bis hin zu Entwicklungszusammenarbeit und erneuerbarer Energie.

An allen Fronten

Teil des Programms sind sechs Ausbildungsmodule, in denen unter anderem vermittelt wird, wie Umweltschutz in Österreich funktioniert, wie er organisiert und rechtlich geregelt ist: „Davor war mir nicht ganz klar, wo der Umweltschutz  überall eine Rolle spielt. Es gibt keinen Bereich, der die Umwelt nicht betrifft“, erzählt Xaver. Darüber hinaus bekommen die jungen Menschen Grundlagen der Mediengestaltung mit auf ihren Weg. Im Laufe des Engagements muss jede und jeder Teilnehmende eine Aktion in einem Medienprojekt dokumentieren oder ein bestimmtes Thema der jeweiligen Einsatzstelle präsentieren.

Das Freiwilligenjahr vermittelt Umweltschutz als gesellschaftlichen Auftrag und zeigt, unter welchen Rahmenbedingungen er funktioniert.
Fotos: BirdLife/Lisa Lugerbauer, JUMP

Wöchentlich sind 34 Arbeitsstunden vorgesehen. Abhängig davon, ob auch Verpflegung gestellt wird, beträgt das monatliche Taschengeld derzeit bis zu 345 Euro. Außerdem gibt es Bahnvergünstigungen,
und die Kosten für die Fahrt zur Dienststelle werden komplett ersetzt. Grundsätzlich können alle Menschen mit Hauptwohnsitz in Österreich zwischen 18 und 30 Jahren ein Freiwilliges Umweltjahr antreten, das zwischen sechs und zwölf Monaten dauert. Um als Ersatz für den Zivildienst anerkannt zu werden, müssen es aber mindestens zehn Monate sein.

„Die Anerkennung war für die Bedeutung des Programms ein wichtiger Meilenstein“, sagt Claudia Kinzl-Ogris, Gründerin der Jugend-Umwelt-Plattform (JUMP) und Programmleiterin des Freiwilligen Umweltjahres. Denn vier Fünftel der jungen Männer im  Freiwilligendienst lassen sich diesen als Zivildienstersatz anrechnen. Möglich ist das seit dem Jahr 2013.

Sicherheit für Freiwillige

Zwar existierte schon in den 1990er Jahren ein Vorgängerprojekt. „Allerdings gab es damals keinen rechtlichen Rahmen für den Einsatz der Freiwilligen. Das Engagement passierte in einem Graubereich zwischen Dienstverhältnis und reiner Freiwilligkeit“, erklärt die Programmleiterin.

2011 hatte die Europäische Union das „Jahr der Freiwilligkeit“ ausgerufen. Im selben Jahr gründete sich  JU MP. Bereits 2012 wurde in Österreich ein Freiwilligengesetz verabschiedet, das unter anderem das Freiwillige Umweltjahr genauer regelte und JUMP zu dessen Trägerorganisation ernannte. Finanziert
werden die Plattform und der Freiwilligendienst inzwischen von den neun Bundesländern gemeinsam mit dem Klimaschutzministerium. „Unser nächstes Ziel ist, dass das Freiwillige Umweltjahr auch beim Taschengeld dem Zivildienst angeglichen wird. Dann würden Teilnehmende ungefähr 500 Euro im Monat erhalten“, sagt Kinzl-Ogris. Dieses Ziel könnte bereits im September erreicht werden. Denn ein entsprechender Gesetzesentwurf liegt vor und soll noch vor der Sommerpause im Parlament beschlossen werden. Die Novelle des Freiwilligengesetzes sieht außerdem ein Klimaticket für jede freiwillige Person vor.

„Die Anerkennung als Zivildienst-Ersatz war für die Bedeutung des Programms ein wichtiger Meilenstein.“

Claudia Kinzl-Ogris, Programmleiterin JUMP

Etwa 40 Prozent der Freiwilligen sind junge Frauen, für die eine Anrechnung als Ersatzdienst keine Rolle spielt. Daher ist auch die Kenntnis weiterer Motivationsfaktoren für JUMP sehr wichtig. Diese erhebt die Plattform regelmäßig: „Einer der Hauptbeweggründe ist die Berufsorientierung und das Kennenlernen von Möglichkeiten“, sagt Claudia Kinzl-Ogris. Ein zusätzlicher Anreiz sei das Klimaticket, das die Freiwilligen zukünftig erhalten sollen.

Hobby, Beruf, Berufung

Auf der anderen Seite würden die teilnehmenden Organisationen und ihre Dienststellen erheblich von Freiwilligenarbeit profitieren: „Sie schätzen den frischen Wind und den Input der jungen Generation. Die Freiwilligen bringen oft schon handfeste Fähigkeiten aus ihrer Ausbildung auf dem Letztstand mit“, so
die Programmleiterin.

Ein gutes Beispiel dafür ist Benjamin. Er kann bereits auf Berufserfahrung im Umweltschutz zurückgreifen. Schon als Schüler hat er damit begonnen, freiberuflich für ein Technikerbüro das Vogelvorkommen an Standorten geplanter Windkraftwerke zu dokumentieren: „Ich könnte auch sagen, dass ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe“, lacht er.

Dazu passt, dass die Kurseinheiten des Freiwilligen Umweltjahres nicht nur das Naturwissen vertiefen sollen. Sie tragen durch Berührungspunkte mit Expertinnen und Experten  zu einer Professionalisierung bei: „Eine meiner Leidenschaften ist das Fotografieren. Wenn man aber von jemandem etwas gezeigt bekommt, der damit sein Geld verdient, lernt man noch mal ganz anders“, sagt Xaver. Den Stellenwert des vermittelten Wissens soll neben einem Zertifikat, das den Teilnehmenden zum Abschluss verliehen wird, ein weiterer Aspekt unterstreichen: Wer später eine Ausbildung an der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik absolviert, bekommt einen Teil der Studienleistung (im Ausmaß von 8 ECTS) angerechnet.

Fürs Leben lernen

Und nicht nur inhaltlich sind die Ausbildungsmodule im Freiwilligen Umweltjahr spannend: „Allein in unserer Gruppe der Ostregion sind 25 Leute im gleichen Alter, die sich alle irgendwie für die Natur interessieren. Da bildet sich schon so etwas wie eine Gemeinschaft“, sagt Benjamin. Es ist vermutlich kein Zufall, dass die beiden Freiwilligen von BirdLife für den nächsten Lebensabschnitt ähnliche Pläne haben: Beide wollen Biologie studieren.

Darauf, was sie später einmal beruflich machen werden, möchten sie sich noch nicht festlegen: „Aber ich glaube schon, dass ich immer etwas machen werde, das mit Umweltschutz zu tun hat“, sagt Benjamin. Er spricht damit etwas an, das für die Jugend-Umwelt-Plattform zentral ist: „Für die Umweltorganisationen ist der Impact durch das Freiwillige Umweltjahr unglaublich wertvoll. Die jungen Menschen kommen in einer Lebensphase grundlegender Veränderungen zu uns. Wenn wir sie mit den Erfahrungen, die sie hier machen, ein Stück weit mitprägen, hilft das dem Umweltschutz allgemein“, ist Claudia Kinzl-Ogris überzeugt.

Als prägend dürften Xaver und Benjamin ihre Erfahrungen jedenfalls in Erinnerung behalten: Beide sind von zu Hause ausgezogen und wohnen nun zumindest unter der Woche in Wien. Die Schulbank haben sie mit dem BirdLife-Büro und ihren Einsätzen in der freien Natur getauscht: „Alltag wird es immer geben“, sagt Xaver, „aber wenn der nur annähernd so aussieht wie im Freiwilligen Umweltjahr, kann man schon zufrieden sein.“

Mitmachen.

Für das Freiwillige Umweltjahr 2023/24 gibt es noch freie Plätze, für die man sich noch bis Oktober 2023 bewerben kann. Kontaktdaten und alle Infos dazu gibt es auf der Website der Jugend-Umwelt-Plattform.

www.jugendumwelt.at
Andrea Leitgeb begann mit 38 Jahren ihre Karriere beim Österreichischen Bundesheer, die Medizinerin wurde als erste Frau Offizierin im Generalsrang. Als Evaluierungsdirektorin für das militärmedizinische System reist sie zu den Truppen in ganz Österreich und kennt deren Situation vor Ort. Lebenslanges Lernen sieht sie als persönliches Erfolgsrezept – und als Mittel gegen den Fachkräftemangel.

Interview: Cornelia Ritzer
Fotos: Franziska Liehl

 

Im Jahr 2014 wurden Sie die erste Frau Brigadier des Österreichischen Bundesheeres und standen im Rampenlicht. Wie waren die Reaktionen auf diesen Aufstieg?

Teilweise gab es Erstaunen, denn ich habe meine Bewerbung nicht an die große Glocke gehängt. Und ich habe eine Flut von Glückwünschen und Zuspruch erhalten, sowohl medial als auch persönlich aus dem Kameraden und Kollegenkreis. Im Internet gab es auch böse Kommentare. Das habe ich aber nicht auf mich gemünzt, es gibt einfach Personen, die so etwas schreiben. Und meine Familie hat sich natürlich sehr gefreut.

Hat es auch Reaktionen wie „Höchste Zeit, dass eine Frau Generalin wird“ gegeben?

Auch. Ich habe aus den USA und von anderen Armeen Glückwünsche bekommen, weil sich die Kunde über die Ministerien international verbreitet hat, dass jetzt auch Österreich eine Frau im Generalsrang hat. Anderswo gibt es das schon lange. Wir haben gegenüber anderen Armeen noch immer eine relativ niedrige Frauenquote, obwohl das jetzt schon sehr viel besser ist.

Andrea Leitgeb ist Fachärztin für Allgemeinchirurgie und begann ihre militärische Karriere beim Bundesheer im Jahr 2001. 13 Jahre später – im April 2014 – wurde die gebürtige Tirolerin zur ersten Frau Brigadier im Bundesheer ernannt.

Mit der Heeressanitätschefin, der Leiterin der Direktion 8, gibt es seit einigen Jahren eine zweite Frau – sie ist ebenfalls Medizinerin – im Generalsrang. Viele Frauen machen im Lauf ihrer Karriere jedoch die Erfahrung, dass es für sie eine gläserne Decke gibt. Mit welchen Hindernissen muss man als Frau im Bundesheer kämpfen?

Wenn eine Frau die Militärakademie macht und den Generalstabslehrgang absolviert, hat sie natürlich die Chance, aufzusteigen. Aber das dauert. Es wurde bereits begonnen, den weiblichen Nachwuchs zu fördern, nur geht das nicht so schnell. Militärmedizinerinnen dagegen sind Quereinsteigerinnen, für sie gibt es gewissermaßen eine gläserne Decke. Natürlich haben wir Medizinerinnen die militärische Ausbildung, und es ging relativ schnell, den Generalsrang zu erreichen. Aber wir können nur bis zu einem bestimmten Dienstgrad kommen und es ist auch nur eine begrenzte Anzahl von Stellen in diesem Rang zu besetzen

Aber die Frauenförderung im Bundesheer existiert?

Die existiert auf jeden Fall. Unsere Frau Minister schaut da drauf. Aber als Frau muss man auch was können.

Haben Sie einen Ratschlag für Frauen, die über eine Karriere im Bundesheer nachdenken? Und welche Eigenschaften sollten Frauen sowie Männer mitbringen, wenn sie diesen Weg einschlagen möchten?

Kameradschaft und Durchhaltevermögen, Belastungsfähigkeit und Reisebereitschaft sowie permanente Fortbildung sind die Hauptkriterien, um eine Karriere beim Heer – wie auch in der zivilen Welt – zu machen. Die Zeiten haben sich geändert, die Akzeptanz von Frauen beim Heer stellt keine Hürde mehr dar.
Man muss vor allem authentisch sein und sich selbst treu bleiben. Ich habe das immer getan. Zu versuchen, sich anders darzustellen, als man ist, wird auf die Dauer nicht klappen. Und natürlich ist der Aufstieg  manchmal beschwerlich – je höher man kommt, desto dünner wird die Luft. Das ist auch im zivilen Leben so. Man muss einen geraden Weg gehen.

Vor Ihrer derzeitigen Position als Evaluierungsdirektorin im Verteidigungsministerium waren Sie Kommandantin der Sanitätsschule des Bundesheeres. Welche Kompetenzen braucht man sowohl als Ärztin als auch als Generalin? 

Ich bin erst mit 38 Jahren zum Bundesheer gekommen. Das heißt, ich habe im zivilen Leben mit meinen Facharztausbildungen bereits viel Zeit mit Patientinnen und Patienten verbracht. Empathie und Einfühlungsvermögen waren mir immer wichtig. Dann kann man auch leichter herausfinden, was jemandem fehlt. Das war immer mein Ansatz. Auch Durchsetzungsvermögen, Fachkompetenz, fundiertes Wissen und die Fähigkeit, über den Tellerrand zu schauen, sind wichtige Voraussetzungen, um als Ärztin, in Führungspositionen und auch als Person im Generalsrang agieren zu können.

„Die Attraktivierung der medizinischen Berufe ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft. Mehr Primärversorgungszentren würden sicher zu einer Entlastung der Spitalsambulanzen führen.“

Andrea Leitgeb, Brigadier

Der Fachkräftemangel beschäftigt künftig alle Institutionen. Wie kann man (junge) Menschen aus dem medizinischen Bereich überzeugen sich beim Bundesheer zu bewerben? Was macht das Bundesheer zu einem attraktiven Arbeitgeber?

Fachkräftemangel besteht nicht nur in der Medizin oder beim Österreichischen Bundesheer, sondern in allen  Branchen und in ganz Europa. Laut Statistik kommen ab 2024/25 starke Pensionsjahre auf uns zu, wenn die Babyboomer in Pension gehen. Und wir haben in manchen Bereichen zu wenig Nachwuchs, leider. Das wird in den nächsten Jahren eine große Herausforderung sein.
Das Bundesheer ist auch für Medizinerinnen und Mediziner ein attraktiver Arbeitgeber. Langfristige Perspektive, Karrieremöglichkeiten und Vielfältigkeit sind die Hauptanreize. Die junge Generation will eine gute Work-Life-Balance, ein adäquates Gehalt und eine Lebensplanung mit Familie haben. Als Ärztin beim Bundesheer habe ich einen guten und sehr abwechslungsreichen Job. Auch die Einsätze im Ausland sind planbar, selbst wenn man innerhalb von ein paar Tagen reisebereit sein muss, weil akut etwas passiert und man sich zur Bereitschaft meldet.
Ich habe als Oberärztin für Chirurgie angefangen, war dann Kommandantin der Sanitätsschule und bin erste Generalin geworden. Und jetzt bin ich Evaluierungsdirektorin für das gesamte militärmedizinische System in Österreich. Das ist für mich eine sehr schöne und auch sehr vielfältige Karriere. Man bekommt viele Möglichkeiten.

Was hat Sie damals überzeugt, zum Bundesheer zu gehen?

Ich war eine Abenteurerin und mich hat der Auslandseinsatz sehr gereizt. Ich war sieben Monate als Bataillonsärztin am Golan in Syrien. Da durfte ich dieses Land noch vor dem Krieg kennenlernen,
das war auch kulturell sehr interessant.

Während der Pandemie war das Gesundheitspersonal besonders stark gefordert. Viele haben – etwa aus Überlastung – den Beruf an den Nagel gehängt. Gibt es eine ähnliche Entwicklung in den  militärmedizinischen Diensten? Und wie kann man dieser Entwicklung entgegenwirken?

In den zivilen Krankenanstalten gibt es wegen der Belastung eine große Abwanderung in Privatspitäler und private Ordinationen. Und je mehr gehen, desto enger wird die Situation für die, die bleiben. Die Attraktivierung der medizinischen Berufe ist eine Aufgabe, die uns alle betrifft. Mehr Primärversorgungszentren würden sicher zu einer Entlastung der Spitalsambulanzen führen. Die Militärspitäler zum Beispiel werden durch die truppenärztlichen Ambulanzen entlastet. Die Belastungen und die Kündigungsrate im militärmedizinischen Dienst werden regelmäßig evaluiert, sind jedoch im Vergleich zum zivilen System gering. Unser Personal war in der Pandemie zwar sehr gefordert, weil wir im Assistenzeinsatz waren, aber das ist jetzt besser geworden. Obwohl natürlich auch wir einen Personalmangel haben, vor allem bei den Ärztinnen und Ärzten.

Erst kürzlich – und immer wieder – gab es öffentliche Diskussionen über Postenbesetzungen im Bundesheer. Werden Sie als Mitglied des Bundesheeres darauf angesprochen? Und wie reagieren Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen auf Kritik von außen?

Darauf werde ich nicht angesprochen, auch nicht im privaten Bereich. Das ist nichts  Bundesheerspezifisches, solche Dinge gibt es auch in anderen Ressorts. Ich kann dazu nichts sagen, weil ich nicht involviert bin. Politik ist Politik, und Arbeit ist Arbeit. Ich bin hier im Dienst.

Aufstiegsmöglichkeiten und Vielfältigkeit sind gute Argumente für die Arbeit beim Militär, sagt Andrea Leitgeb. Der Fachkräftemangel, der sich noch verschärfen wird, ist auch eine enorme Herausforderung für das Bundesheer.

Wir führen dieses Interview wenige Tage nach dem verheerenden Erdbeben an der türkisch-syrischen Grenze, das Bundesheer hat Soldaten ins Katastrophengebiet entsandt. In den letzten Jahren rückten viele Krisenherde immer näher, der russische Angriff auf die Ukraine hat Europa deutlich vor Augen geführt, dass ein geschlossenes Auftreten gegen den Krieg wichtig ist. Ist die Bedeutung des Bundesheeres
dadurch gestiegen?

Ich glaube, das Bundesheer war nie ungeschätzt. Nur in Friedenszeiten denkt man – vor allem die junge Generation – nicht daran, dass es auch anders sein könnte. Wenn dann was passiert, beginnt man nachzudenken. Dann sieht man, dass leider nichts unmöglich ist und das Bundesheer sehr wohl einen
wichtigen Beitrag zum Schutz und zur Sicherheit unserer Heimat beitragen kann.

Zuvor gab es immer wieder Stimmen, die die Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht forderten, im Jahr 2013 fand auch eine Volksbefragung dazu statt. Ist diese Debatte nun – zehn Jahre später – endgültig vorbei?

Diese Diskussion ist jetzt überflüssig.  Wir sehen, dass wir ein Heer brauchen und dass es wichtig ist, die Wehrpflicht zu haben. Denn wenn mal was passiert, haben die Menschen zumindest eine Grundausbildung, sodass sie sich selber helfen können.

In den nächsten zehn Jahren soll das Budget des Verteidigungsministeriums deutlich ansteigen. Was kann diese Finanzspritze bewirken? Und kommt sie rechtzeitig?

Besser spät als nie – und es ist noch nicht zu spät. Die Modernisierung von Geräten, die  Attraktivitätssteigerung und das Sichern weiterer Arbeitsplätze für alle Fachrichtungen sind ein großer Schritt in die Zukunft. Derzeit entsteht in Innsbruck ein neues Militärspital mit einer Ambulanz für Alpin- und Höhenmedizin und einer Abteilung für Psychotraumatologie und Stressmanagement, das eine gute Kooperation mit dem zivilen Bereich ermöglicht. Ansätze und Pläne dafür waren schon lange da, nur das Geld hat einfach gefehlt. Jetzt kann man all das verwirklichen. Und das finde ich sehr, sehr gut.

Versorgung.

Aufgabe des Militärischen Gesundheitswesens ist die medizinische Versorgung der Soldatinnen und Soldaten und zivilen Bundesheerangehörigen in Österreich, bei internationalen Hilfseinsätzen und bei Friedensmissionen.

www.bundesheer.at
Wer in der Mitte der Karriere in die Verwaltung wechselt, ist nicht einfach spät dran – sondern Teil eines Trends. Drei Quereinsteigerinnen erzählen, was den öffentlichen Dienst für sie attraktiv gemacht hat. Und warum „externe“ Erfahrung am neuen Arbeitsplatz so wertvoll ist.

Text: Clemens Stachel

 

Es war die Entscheidung zu einem Abenteuer.“ Lachend erinnert sich Martina Frühwirth an den Moment, als sie sich vor fünf Jahren um die Stelle bewarb, die sie heute innehat: als Referentin in der  Magistratsabteilung Architektur und Stadtgestaltung der Gemeinde Wien. Mit dem „Abenteuer“ meint die Wienerin aber weniger ihre jetzige Tätigkeit – ihre „MA“ plant und gestaltet den öffentlichen Stadtraum – als vielmehr ihr damaliges Wagnis, sich im Alter von 46 Jahren beruflich komplett neu zu orientieren. „Ich habe davor über 20 Jahre im Kulturbereich gearbeitet: Ich war im Architekturzentrum Wien angestellt, habe für Ö1 Radiosendungen gestaltet“, erzählt Frühwirth.

„Ich hatte mir einen Namen gemacht, ein gutes Netzwerk aufgebaut, wie das für eine Karriere in diesem Bereich notwendig ist. Der Umstieg in die Stadtverwaltung bedeutete für mich also auch, diesen Namen aufzugeben. Jetzt bin ich Teil eines großen Ganzen, und es trägt den Namen Stadt Wien.“ Dafür, sagt Frühwirth, übe sie jetzt endlich den Beruf aus, für den sie eigentlich ausgebildet ist: Landschaftsplanerin. „Und ich mag es, mit meinem Wissen und Engagement genau an dem Platz zu sein, wo ich gebraucht werde.“

In der Abteilung Architektur und Stadtgestaltung der Stadt Wien fühlt sich Martina Frühwirth „genau an dem Platz, wo ich gebraucht werde“.
Fotos: Marion Pertschy (2)

Das Wagnis hat sich für Martina Frühwirth also bezahlt gemacht. Aber haben wir es hier mit einem  extravaganten Einzelphänomen zu tun – oder mit der Vertreterin eines stärker werdenden Trends? Dass Berufskarrieren heute im Allgemeinen vielfältiger, brüchiger, veränderlicher verlaufen als vor 30 Jahren, ist ja nichts Neues. Doch erst seit relativ kurzer Zeit können wir beobachten, wie sich diese Dynamik auch auf den öffentlichen Dienst auswirkt.

Andreas Buchta-Kadanka, Gruppenleiter im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport (BMKÖS), liefert hilfreiche Zahlen dazu: „Wir könnten als grobe, pragmatische Definition des ‚Quereinsteigens‘ ein Eintrittsalter von über 35 Jahren heranziehen. Wie groß ist also der Anteil der über 35-Jährigen bei den externen Neuaufnahmen im Bundesdienst? 2017 lag dieser Anteil bei rund 21 Prozent, 2019 bei 22 und im abgelaufenen Jahr schon bei 28,5 Prozent.“

„Wer quereinsteigt, kann für frischen Wind sorgen, den Austausch fördern und neue Ideen hereinbringen.“

Andreas Buchta-Kadanka, Experte für Verwaltungsinnovation

Die Gründe für diesen Anstieg verortet Buchta-Kadanka einerseits in einem gesamtgesellschaftlichen Trend, nämlich dass „immer mehr Menschen Berufe suchen, die für sie sinnstiftend sind, wie eben der Dienst an der Gemeinschaft“, andererseits aber auch in ganz konkreten gesetzlichen Maßnahmen der
vergangenen Jahre: „Es wurde etwa in manchen Bereichen leichter gemacht, Vordienstzeiten anzurechnen. Außerdem wurden die Einstiegsgehälter mit der Dienstrechtsnovelle 2022 merklich angehoben. Das macht den öffentlichen Dienst auch für ältere Einsteigerinnen und Einsteiger attraktiver.“ Diese aktiv anzuwerben hält der Experte für Verwaltungsinnovation im BMKÖS für notwendig: „Der öffentliche Dienst hat traditionell weniger Fluktuation als der private Sektor, die Laufbahnen dauern länger. Quereinsteigerinnen und Quereinsteiger können hier für frischen Wind sorgen, den Austausch fördern und neue Ideen hereinbringen.“

Neue Perspektiven

Für Miriam Kröll fühlte sich der Umstieg in die Verwaltung wie ein Seitenwechsel an. Zwölf Jahre lang  hatte die Innsbruckerin als Journalistin bei der „Tiroler Tageszeitung“ gearbeitet – und in dieser Rolle regelmäßig auch aus dem Innsbrucker Rathaus berichtet. Mit 24 Jahren war sie „Tiroler Journalistin
des Jahres“, 2014 zählte sie das Branchenportal „newsroom.de“ zu den engagiertesten „500 Medienfrauen“ im deutschsprachigen Raum. „Und trotzdem bin ich noch im selben Jahr von einem Medienunternehmen in den öffentlichen Dienst gewechselt“, erzählt die heute 40-Jährige.

„Ich hatte damals auch Wechselangebote privater Unternehmen, doch die Aufgabe in der Stadt hat mich am meisten gereizt.“ Im Rathaus war genau ihr Know-how gefragt: Gleich im ersten Jahr nach ihrem Quereinstieg konzipierte und koordinierte Kröll den Relaunch des Infomagazins der Stadt mit einer Printauflage von 60.000 und des Webportals „ibkinfo.at“ sowie den Ausbau der Social-Media-Kanäle. Im Jahr 2018 übernahm sie dann die Leitung des Amtes „Bürgerservice und Außenbeziehungen“. Das war nach der Geburt ihres ersten Kindes. „Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist ein großer Pluspunkt im Verwaltungsdienst“, sagt sie. „Ich konnte direkt nach dem Mutterschutz in Vollzeit wiedereinsteigen. Das ging natürlich nur, weil ich eine Homeoffice-Vereinbarung hatte. Wohlgemerkt: Schon vor der Corona-Pandemie! Ich glaube nicht, dass das in der Privatwirtschaft in dieser Form möglich gewesen wäre.“

Miriam Kröll wandelte sich von der angesehenen Journalistin zur Leiterin des Amtes für Bürgerservice und Außenbeziehungen im Innsbrucker Rathaus.
Foto: Die Fotografen

Die größte Umgewöhnung im neuen Job bedeutete für Kröll die Arbeit hinter den Kulissen – das  kennenlernen der Verwaltungsstrukturen, die zwingenden rechtlichen Vorgaben, die genaue Dokumentation des eigenen Tuns. „Diesen mitunter anstrengenden, aber notwendigen Teil der Arbeit hatte ich als Journalistin gar nicht auf dem Schirm“, erzählt sie. „Überhaupt war es spannend, wie sich mein Blick aufs Rathaus verändert hat, durch den ich die Entscheidungswege und Strukturen noch besser nachvollziehen konnte.“

Jeder Umstieg, sagt Kröll, brauche ein gewisses Maß an Anpassung: „Ich finde es ganz wesentlich, dass man sich als Quereinsteigerin das Vertrauen der Kolleginnen und Kollegen erarbeiten muss. Das war gerade in meinem Fall wichtig, weil ich ja in der Rolle als kritische Journalistin gerade auch auf Mängel im System aufmerksam gemacht hatte. Und nun war ich plötzlich Teil davon.“

Argument Gleitzeit

Der Quereinstieg in die Verwaltung war aber auch zu jenen Zeiten möglich und populär, als im Bundesdienst ein „Aufnahmestopp“ galt, also in den Jahren vor 2015. Ab 2009 durften jährlich mehrere
hundert Bundesbeamtinnen und -beamte, die bei der Österreichischen Post AG und der Telekom Austria voraussichtlich bald nicht mehr gebraucht worden wären, ins Finanz-, Innen- oder Justizministerium wechseln.

Maria Kohlberger war damals eine der Ersten, die den Übertritt wagten. „Ich hatte 22 Jahre bei der Post gearbeitet, davon 15 Jahre als Filialleiterin. Als ich dann ins Finanzamt Linz kam, musste ich in vielen Bereichen ganz von vorne anfangen“, erinnert sie sich heute an ihren Jobwechsel mit 43 Jahren. Kohlberger durchlief die Grundausbildung und die Funktionsausbildung im Infocenter, eignete sich das nötige steuerrechtliche Wissen an und wurde keine drei Jahre nach dem Umstieg erneut in eine Leitungsposition befördert. „Die Erfahrung, die man als ‚ältere‘ Einsteigerin mitbringt, kann sicherlich ein
Startvorteil in der neuen Organisation  sein“, meint Kohlberger.

„Man hat als erfahrene Beamtin für sich schon ein gewisses Arbeitssystem entwickelt, in dem man sich wohlfühlt und effizient arbeiten kann.“ Was sie an ihrer neuen Dienststelle im Gegensatz zur alten von Beginn an schätzte, war das Gleitzeitmodell: „Als ich wechselte, ging meine Tochter noch in die Schule. Die flexiblen Arbeitszeiten haben mir das Leben als Mutter mit einem Schlag erleichtert. Früher bei der Post musste ich fixe Arbeitszeiten einhalten.“

Die vormalige Postbeamtin Maria Kohlberger ergriff die Chance zum Wechsel in die Finanzverwaltung. Ihre Leitungserfahrung zählte auch an der neuen Dienststelle.
Foto: BMF/FAÖ

Aber kann das Administrieren von Gesetzen überhaupt ein Traumberuf sein? Ist das nicht ein ziemlich trockenes Tagesgeschäft? „Ganz und gar nicht“, sagt Martina Frühwirth. „Ich finde es großartig, dass die Richtschnur unseres Handelns die Gesetze sind – also das Ergebnis eines demokratischen Prozesses. Wer administriert, der übernimmt so etwas wie die Qualitätssicherung des öffentlichen Lebens. Wir hier zum Beispiel müssen den öffentlichen Raum für alle Menschen gestalten. Also auch für jene, die in der Politik nicht zu Wort kommen oder nicht wählen dürfen. Ich kann ganz direkt für mehr Gerechtigkeit in der Stadt sorgen.“

Arbeit und Wirkung

Ähnlich sieht das Maria Kohlberger, die im Finanzamt-Infocenter „den idealen Arbeitsplatz“ für sich entdeckt hat: „Der Kundenverkehr ist das, was ich schon in meiner vorigen Arbeit geliebt habe. Es ist ein gutes Gefühl, ‚ganz normalen Menschen‘ helfen zu können. Gerade beim Thema Steuern, wo sich viele
schnell verlieren.“ Womit wir wieder bei der Verwaltungsarbeit als fundamentalem Dienst am Zusammenleben der Menschen wären. So wie es auch Martina Frühwirth beschreibt, wenn sie am Ende eines Arbeitstages hinaus auf die Straße tritt und direkt am Meidlinger Markt steht. Eine belebte, bewegte, auch vom Stadtbild her unruhige Gegend. „Was ich mir vor meiner Zeit in der Verwaltung niemals erwartet hätte“, sagt sie, „ist, wie schwer ich die Arbeit ‚abschalten‘ kann. Denn wohin ich auch gehe, sehe ich die Auswirkungen meiner Arbeit in der Praxis.“

Karrierechancen.

Auf der Jobbörse des Bundes lässt sich die Liste der freien Stellen im Dienst der Republik durchsuchen. Nach der Registrierung können Interessierte auch ein Karriereprofil anlegen oder einen „Jobagenten“ einrichten, der sie stets über neue Angebote informiert.

jobboerse.gv.at
In urbanen Lebensräumen werden schon heute immer mehr Daten miteinander vernetzt. Vieles wird für die Bewohnerinnen und Bewohner dadurch einfacher. Smart-City-Ansätze können bei der Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme helfen, doch sie bergen auch Risiken.

Text: Jana Maria Unterrainer

 

Mehr als die Hälfte der Österreicherinnen und Österreicher lebt heute in Städten und dieser Anteil wird künftig weiter steigen. Aber wie sieht die Stadt der Zukunft aus? Wie werden wir in ihr leben und arbeiten?

Nach Schätzungen der Weltbank werden 2050 weltweit sieben von zehn Menschen in Städten wohnen. Große Herausforderungen, wie etwa der Umgang mit dem Klimawandel, verlangen nach Lösungen. Fest steht, dass wir stärker von Technologien profitieren werden. Das sogenannte Internet of Things (IoT) wird immer wichtiger. Mehr und mehr Gegenstände, Wohnräume und öffentliche Orte werden mit dem Internet verbunden, und sie generieren und verarbeiten digitale Daten. In vielen Privathaushalten helfen Sensoren bei der Regulierung der Raumtemperatur oder verrichten Staubsaugerroboter ihren Dienst. Auch der öffentliche Raum wird zunehmend digital: An Bauwerken und Pflanzen angebrachte Sensoren liefern schon heute wertvolle Umweltdaten. Die Stadt der Zukunft wird eine Smart City sein.

In Städten und Gemeinden soll eine nachhaltige und vielfältige Fortbewegung ermöglicht werden. Damit auf Autos mit Verbrennungsmotor verzichtet werden kann.
Fotos: Wien 3420 aspern Development AG/Daniel Hawelka, Luiza Puiu

Doch was sind Smart Cities beziehungsweise Smart Regions? Auf diese Frage haben Fachleute unterschiedliche Antworten. Für die Datenexpertin Marlies Temper von der Fachhochschule St. Pölten sind Smart Cities „vernetzte Städte, die Daten sammeln und aus diesen Wissen extrahieren, um damit das Wohlbefinden der Bevölkerung zu steigern“. Durch digitale Lösungen sollen Städte und Regionen effizienter im Umgang mit Problemen werden. Anhand der Daten von sogenannten Umweltsensoren lässt sich zum Beispiel ermitteln, wo neue Parks oder Grünanlagen sinnvoll wären oder an welchen Orten ideale Bedingungen für Photovoltaikanlagen herrschen. Auch unsere Mobilität wird sich durch das IoT verändern. So kann mittels digitaler Live-Daten festgestellt werden, wie ausgelastet eine Straßenbahnlinie ist.

Informatiker Schahram Dustdar von der Technischen Universität Wien hält das Label Smart Cities für „sehr geduldig“, denn ganz unterschiedliche Projekte bekämen es zurzeit verliehen. Ein loser Bezug zum Thema genüge schon, um neue Initiativen in der Stadt entsprechend zu branden, beobachtet der Experte. Zugleich sieht er in dem Ansatz großes Potenzial. Mit der digitalen Datenvernetzung werde es möglich, „neuartige Dienste anzubieten, die es vorher nicht gab“. So können heute etwa medizinische Untersuchungsergebnisse dank Vernetzung ortsunabhängig von verschiedenen Gesundheitsdienstleistern abgerufen werden.

Im Bereich der öffentlichen Verwaltung gilt es laut Dustdar vor allem die starke Fragmentierung aufzulösen, um die Synergien der Smart-City-Konzepte zu nutzen. Er zieht dabei den Vergleich zum menschlichen Körper: „Wir haben eine bestimmte Wahrnehmung unseres eigenen Körpers. Aber in Wirklichkeit sind es Milliarden von Zellen und Bakterien, die in uns zusammenarbeiten müssen, ohne dass wir es bemerken.“ Für „smarte“ Projekte in der  Verwaltung brauche es daher einen ganzheitlichen Blick, um Potenziale zu erkennen.

Was nützt die Technik, die nicht verwendet wird?

Bei Smart Cities beziehungsweise Smart Regions gehe es darum, wie das „Leben des Einzelnen und der Communitys beziehungsweise einer ganzen Stadt vernetzter gestaltet“ werden könne, sagt Dustdar. Die „Smart Cities Initiative“, eine Kooperation des Klimaund Energiefonds sowie des Klimaschutzministeriums (BMK), hat Ziele für österreichische Projekte definiert. Konkret soll mittels Datenvernetzung die Lebensqualität der Menschen gesteigert und der Ressourcenverbrauch minimiert werden. Ein solches Smart-City-Konzept hat etwa die Stadt Wien.

Der Einstieg in das Thema beginne mit der Frage nach dem zugrundeliegenden Stadtbegriff, sagt Thomas Madreiter, Planungsdirektor der Stadt Wien im Geschäftsbereich Bauten und Technik. In seiner Zukunftsvision steht die Stadt als lebendiger Organismus im Zentrum. Madreiter und sein Team arbeiten deswegen an einem Stadtmodell, welches „das Soziale in den Mittelpunkt rückt“. Dazu wurden für Wien Ziele festgelegt, die sich an den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen orientieren. Das oberste Gebot ist, dass Wien bis 2040 klimaneutral sein soll. Auf der nächsten Ebene gilt es, die hohe Lebensqualität für alle Wienerinnen und Wiener zu erhalten und dabei soziale Aspekte zu bedenken. Drittens liege es den Planerinnen und Planern der Bundeshauptstadt am Herzen, Forschung und Innovation sowie Bildung als Basis für eine smarte Stadt voranzutreiben, betont der Planungsdirektor.

„Smart Cities sind vernetzte Städte, die Daten sammeln und aus diesen Wissen extrahieren, um das Wohlbefinden der Bevölkerung zu steigern.“

Marlies Temper, Datenexpertin FH St. Pölten

Die Seestadt Aspern wurde als Kooperationsprojekt der Stadt Wien und des Bundes ins Leben gerufen, um die Stadtentwicklung in der schnell wachsenden Metropole voranzutreiben. Sie war von Beginn an als Laboratorium angelegt, in dem die Smart City der Zukunft erprobt werden sollte. Bis heute ist eine eigene Forschungseinrichtung dort untergebracht, die sich mit Energienutzung befasst. Madreiter hält es für entscheidend, nicht bloß Neues zu implementieren, sondern auch zu untersuchen, wie Innovationen von der Bevölkerung angenommen werden. Wie gehen etwa die Bewohnerinnen und Bewohner der Seestadt Aspern mit den neuen Möglichkeiten um? Das Forschungsteam beobachtet dazu einzelne Wohnungen und das Verhalten der Menschen dort.

Als Beispiel nennt der Planungsdirektor der Stadt Wien die „Smart Meter“: Manche Menschen würden in den digitalen Zählgeräten zur Erfassung des Stromverbrauchs eine Bedrohung durch mehr Überwachung vermuten. Daher müsse man das Projekt gut erklären. Es gehe darum, „die technischen Möglichkeiten mit den sozialen Potenzialen und Optionen in Einklang zu bringen“, sagt Thomas Madreiter. Die Stadt Wien möchte dabei nicht mit erhobenem Zeigefinger auftreten, wie Madreiter am Beispiel des Individualverkehrs erklärt: „Es ist unser Job als öffentliche Verwaltung, den Menschen Strukturen anzubieten, die sie selbst merken lassen, dass sie kein Auto mehr besitzen müssen, wenn es klügere Alternativen gibt.“ Seiner Einschätzung nach wird das Privatauto in der Stadt schon bald der Vergangenheit angehören. Unerlässlich sei aber die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger, betont Madreiter. Die Stadt Wien hat daher mehrere Bürgerbeteiligungsprojekte ins Leben gerufen. Ein Beispiel sind die sogenannten Klimateams, die Ideen mit positiver Klimawirkung entwickeln. 2022 entstanden in diesem Rahmen 102 Projektskizzen, von denen 19 in den nächsten zwei Jahren umgesetzt werden sollen.

Internationale Vorbilder für die Städte der Zukunft

Smart Cities sind keine österreichische  Erfindung, entsprechende Konzepte werden auf der ganzen Welt erprobt. Planungsdirektor Thomas Madreiter verweist etwa auf das Stadtkonzept von Barcelona, das Digitalisierung als Beitrag zur Demokratisierung besonders berücksichtigt. Städte wie Amsterdam,
Hamburg oder Kopenhagen seien wiederum Vorbilder, wenn es um Mobilitätslösungen und den effizienten Umgang mit öffentlichen Räumen gehe, sagt er.

Informatiker Schahram Dustdar war beruflich in vielen Ländern der Erde unterwegs. Er ist der Ansicht, dass sich gewisse Smart-City-Konzepte mit der Zeit global durchsetzen und wir schon bald eine Art Standardisierung oder auch Baukastenlösungen erleben werden. Interessante Projekte gebe es im Mittleren Osten, etwa in Abu Dhabi oder Dubai; auch in China werde viel mit Smart Cities experimentiert, berichtet Dustdar. Allerdings gilt China aufgrund der weitreichenden staatlichen Überwachung mittels Gesichtserkennung vielen als Negativbeispiel.

Was darf der Staat über die Menschen wissen?

Die Problematik, dass digitale Technologien für Überwachungszwecke verwendet werden können, erkennt auch Stadtplaner Thomas Madreiter. Entscheidend sind für ihn die politischen Bedingungen in einer liberalen Demokratie: „In Österreich begegnen Menschen einander auf Augenhöhe – das Bild vom Staat als überwachendes System sollte uns nicht leiten.“ Er hält aber auch nichts von Smart-City-Lösungen, die auf eine „Cockpit-Perspektive“ setzen, bei der wenige Menschen viele beobachten und bewerten. Generell sei es kein Problem, dass der Staat Daten nutze, findet Schahram Dustdar. Vielmehr gehe es um grundlegende Fragen: Mit welchen Absichten werden die Daten genutzt? Welches Menschenbild liegt ihrer Verwendung zugrunde? Bei der Vernetzung digitaler Daten stehe schließlich immer deren „Nutzbarmachung“ im Vordergrund, ob durch den Staat zum Wohl der Bevölkerung oder durch IT-Konzerne wie Google oder Facebook für ihre Geschäftsinteressen.

Der Privacy-Experte Peter Kieseberg von der FH St. Pölten sieht Smart-City-Technologien kritisch, vor allem wenn sie zur Terrorbekämpfung eingesetzt werden. Der Staat sollte davon absehen, einzelne Menschen zu tracken, fordert er. Falls über Methoden wie Gesichtserkennung im öffentlichen Raum nachgedacht werde, müsse es dafür strenge rechtliche Rahmenbedingungen geben. Auf europäischer Ebene sei man sich dieser Problematik bewusst und versuche aktiv gegenzusteuern, sagt Datenexpertin Marlies Temper. So soll die EU-Verordnung über Künstliche Intelligenz („AI Act“) etwa die Bewertung einzelner Personen hinsichtlich ihres Verhaltens verhindern, wie dies in China geschieht. Bereits mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) habe die EU dafür einen wichtigen Grundstein gelegt, sagt Privacy-Experte Kieseberg. Denn darin stehe ausdrücklich, dass die Datensouveränität beim Individuum liege. Hier sei ein deutlicher Unterschied zum chinesischen Datenverständnis erkennbar.

Kieseberg und Temper sind sich einig: Auf keinen Fall sollte die Angst vor Überwachung uns davon abhalten, die Entwicklung von Smart Cities voranzutreiben; allerdings müsse der Fokus auf der großen Menge an verfügbaren Daten liegen, die ohne Personenbezug sind. Nach ihrer Ansicht sollte die öffentliche Verwaltung vor allem bestehende Projekte fördern und in die Ausbildung zukünftiger Expertinnen und Experten investieren. Damit die digital vernetzten, „smarten“ Städte der Zukunft auch lebenswert sind.

Transformation.

Österreichs Städte und Gemeinden im Sinne des Klimaschutzes und der Nachhaltigkeit zu umzugestalten – das ist das Ziel der „Smart Cities Initiative“. Bisher wurden 155 Stadtprojekte und zwölf Begleitmaßnahmen durch den Klima- und Energiefonds gefördert.

www.smartcities.at
Korruption schwächt den Rechtsstaat und erschüttert das Vertrauen der Bevölkerung in Verwaltung und Politik. Um einen sauberen öffentlichen Dienst sicherzustellen, gibt es klare Compliance-Richtlinien – samt Hilfestellungen für ihre Umsetzung im Berufsalltag.

Text: Sabina König

 

Eine kleine Essenseinladung hier, ein persönlicher Gefallen da, eine ungemeldete Nebenbeschäftigung dort: Öffentlich Bedienstete sind immer wieder mit Situationen konfrontiert, die ihre Integrität auf die Probe stellen. Oft sind es scheinbar harmlose  Handlungen, die schwerwiegende Auswirkungen auf das Image einer Institution haben und sogar strafrechtliche Konsequenzen nach sich ziehen können. Dabei ist transparentes, pflichtbewusstes Vorgehen besonders für Verwaltungsbedienstete unverzichtbar, denn sie tragen eine hohe Verantwortung: Es geht nicht nur darum, sich selbst zu schützen, sondern auch das Vertrauen der Allgemeinheit zu sichern, dass dienstliche Aufgaben zuverlässig und sachlich wahrgenommen werden.

Hohe Bandbreite an Verstößen

Das Thema Compliance ist in den vergangenen Jahren nicht nur in der Privatwirtschaft, sondern auch in der öffentlichen Verwaltung angekommen. Unter Compliance versteht man die Einhaltung von Gesetzen und sonstigen Vorschriften. Compliance Management umfasst alle Maßnahmen zur Förderung von Rechtstreue und zur Verhinderung von Regelverstößen. Eine komplexe Aufgabe, denn die Bandbreite an Ursachen für Verfehlungen ist groß.

„Verstöße können aus Schlampigkeit, Unwissenheit oder Demotivation heraus passieren, oder auch auf ein hohes Maß an krimineller Energie zurückzuführen sein. Ein gutes Compliance-Management-System muss all diese Fälle abdecken“, erklärt Rene Wenk, Direktor des Landesrechnungshofes Burgenland und Experte für Compliance bei Transparency International. Den wichtigsten Erfolgsfaktor sieht Wenk in einem klaren Bekenntnis der Führungsebene zur Bedeutung des Themas.

Um in heiklen Situationen richtig zu reagieren, bietet die Verwaltungsakademie des Bundes In-House-Schulungen zum Thema Compliance an. Das Kursprogramm wird auf die jeweilige Dienststelle zugeschnitten.
Fotos: Alex Halada/AFP/picturedesk.com, BMKÖS

Verhaltenskodex als Hilfestellung

Über die aktuellen Richtlinien informiert der stellenübergreifend geltende Verhaltenskodex, der von der Sektion Öffentlicher Dienst und Verwaltungsinnovation im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (BMKÖS) zur Verfügung gestellt wird. Dieser wurde von über 50 Expertinnen und Experten entwickelt und erläutert auf Grundlage der Rechtslage, wo
Interessenkonflikte und korruptionsgefährdete Situationen auftauchen können und wie sie sich bewältigen lassen. „Mit einem Addendum können Ministerien und andere öffentliche Institutionen das Dokument in Abstimmung mit der  Verwaltungsakademie des Bundes an ihre spezifischen Erfordernisse anpassen“, erklärt Gregor Weber, Jurist im BMKÖS.

Das zugehörige E-Learning-Tool erlaubt einen niederschwelligen, interaktiven Zugang zum Thema, der gut ankommt: „Von November 2020 bis Dezember 2021 zählte das E-Learning-Tool 33.556 Unique Visitors“, freut sich Sandra Rauecker-Grillitsch, Leiterin des Referats III/6/c – Vernetzung und Koordination im BMKÖS. Der Verhaltenskodex ist ein wichtiger Puzzlestein, zusätzlich braucht es aber interne Kontrollsysteme, um auch absichtlichen Korruptionsbestrebungen einen Riegel vorzuschieben.

„Verstöße können aus Schlampigkeit, Unwissenheit oder Demotivation heraus passieren, oder auf kriminelle Energie zurückzuführen sein.“

Rene Wenk, Direktor LRH Burgenland

Risiken sorgfältig abwägen

Mit welchen Folgen im Fall eines Regelverstoßes zu rechnen ist, hängt von der Art des Vergehens ab: Die Speerspitze sind strafrechtlich relevante Verfehlungen wie Bestechung, die mit hohen Geld- oder sogar Haftstrafen geahndet werden. Häufiger sind Verstöße gegen das Dienstrecht wie etwa eine verbotene Geschenkannahme, hier kann es immerhin zu Entlassungen kommen. Strenger sind üblicherweise organisations- beziehungsweise stellenspezifische Vorgaben. „Organisationen müssen sich im Rahmen ihres Risikomanagements die Frage stellen, welche Verhaltensweisen oder Verstöße für sie besonders sensibel sein können. Interne Regelungen können dann auch strenger als gesetzliche Vorgaben sein“, erläutert Rene Wenk.

Die Verwaltungsakademie des Bundes verfolgt das Ziel, öffentlich Bedienstete zu befähigen, in korruptionsgefährdeten Situationen richtig zu reagieren, wie Referatsleiterin Rauecker-Grillitsch erklärt. Das bereits umfassende Schulungsangebot soll noch weiter ausgebaut werden und fußt auf mehreren Säulen: Das Thema „Korruptionsprävention, Compliance und Integrität“ ist Teil der Grundausbildung und Gegenstand von Seminaren und Online-Trainings, die sich unterschiedlichen Schwerpunkten widmen. Zur Verfügung stehen Weiterbildungsangebote und In-House-Schulungen, die auf die Bedürfnisse der jeweiligen Dienststelle ausgerichtet sind und häufig in Anspruch genommen werden.

Wie Gregor Weber, selbst Vortragender an der Verwaltungsakademie, ausführt, sind die Bereiche Auftragsvergabe und Förderung, Vertragsabschluss, Leistungskontrolle und Vertragsüberwachung sowie behördliche Aufgaben wie Genehmigungsverfahren,  Aufsicht oder Kontrolle besonders sensibel.

Bewährter Massnahmenmix

Auch im Bundesministerium für Arbeit und Wirtschaft (BMAW) setzt man in puncto Compliance auf ein umfassendes Schulungs- und Beratungsangebot. „Hilfe zur Selbsthilfe“ lautet die Maxime. „Die Compliance-Verantwortlichen beraten Führungskräfte und Bedienstete bezüglich der zunehmend komplexer werdenden Gesetzeslage ebenso wie zu ressortinternen Verhaltensgrundsätzen“,
erklärt Chief Compliance Officer Bernd Novotny. Ein Compliance-Seminar ist sowohl Teil der Grundausbildung als auch des Weiterbildungsangebots.

Alle Führungskräfte des BMAW haben einmal im Jahr ein von den Compliance-Verantwortlichen speziell gestaltetes E-Learning-Programm mit anschließendem Wissenstest zu absolvieren. Ebenfalls bewährt haben sich Gespräche der Compliance-Verantwortlichen mit neu bestellten Abteilungsleiterinnen und Abteilungsleitern in informellem Rahmen, die auch dem Abklären von Unsicherheiten im Zusammenhang mit Compliance-Fragen dienen. Großer Wert werde auf einfach zugängliche Informationen gelegt, erklärt Novotny: „Wo beispielsweise früher in einem Dokument der Verweis auf gesetzliche Bestimmungen genügt hätte, bieten wir heute prägnante Zusammenstellungen der Compliance-Vorgaben. In der Regel auch verbunden mit einer Prozessbeschreibung. Besonders relevante Richtlinien oder Rundschreiben werden mit eigens dafür erstellten Kurzvideos begleitet.“

„Wo früher in einem Dokument der Verweis auf gesetzliche Bestimmungen genügt hätte, bieten wir heute prägnante Zusammenstellungen der Compliance-Vorgaben.“

Bernd Novotny, Chief Compliance Officer (BMAW)

Verschärfungen notwendig

Trotz all dieser Maßnahmen gibt es für  den Compliance-Experten Rene Wenk noch viel Luft nach oben, was Transparenz im öffentlichen Dienst angeht. Nachgeschärft werden sollte etwa beim Korruptionsstrafgesetz, beim Informationsfreiheitsgesetz oder bei der Transparenz von Vergabeverfahren, sagt er. „Im Corruption Perceptions Index von Transparency International rutscht Österreich immer weiter ab. Das liegt auch daran, dass Transparenzbemühungen im Vergleich zu den öffentlichkeitswirksamen Vorwürfen gegen manche Politiker kaum wahrgenommen werden“, erklärt Wenk, der sich trotzdem zuversichtlich zeigt: Vor 15 Jahren habe man das Wort Korruption kaum in den Mund nehmen dürfen, heute werde öffentlich über die Problematik gesprochen, es gebe Standards und Guidelines. Auch die fortschreitende Institutionalisierung von Compliance-Management-Systemen lässt Wenk hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

Kontakt.

Zum Thema Korruptionsprävention, Compliance und Integrität sind die Verwaltungsakademie des Bundes und die Abteilung Allgemeines
Dienst- und Besoldungsrecht und Koordination Dienstrecht im BMKÖS die richtigen Ansprechpartner.

www.bmkoes.gv.at
Das Bundesrechenzentrum feiert die ersten 25 Jahre seines Bestehens. Der IT-Dienstleister für die öffentliche Verwaltung hat schon vieles umgesetzt, doch Projekte und Services wie FinanzOnline, der Digitale Führerschein oder das „digitale Amt“ oesterreich.gv.at sind nur der Beginn des Weges zum automatisierten Amtsverkehr.

Text: Andrea Sturm

 

Mit der laufenden technischen Veränderung haben sich auch die Aufgaben des Bundesrechenzentrums (BRZ) stark gewandelt, erzählt Roland Ledinger, technischer Geschäftsführer, zuständig für Kundenmanagement, Betrieb und Entwicklung: „Mit der Ausgliederung aus dem Ministerium und dem Wandel zur GmbH hat sich auch der Fokus geändert: Ursprünglich ging es um Rechenzentrumsleistung, mittlerweile sind wir Full Service Provider für die öffentliche Verwaltung des Bundes. In diesem Bereich können wir Lösungen effizient und zielgerichtet umsetzen, weil wir die Anforderungen sehr gut kennen.“

Digitale Geschichte

Das Bundesrechenzentrum wurde 1997 gegründet, doch die digitale Geschichte Österreichs beginnt schon Jahrzehnte zuvor. Bereits Anfang der 1970er Jahre wurde das Bundesrechenamt eingerichtet, das vor allem auf die Aufgaben der Bundeshaushaltsführung konzentriert war. Mit der fortschreitenden technischen Entwicklung und den Möglichkeiten, die sich auch für Verwaltung und öffentliches Leben daraus ergaben, wurden die Aufgaben komplexer. Die von der Bundesregierung definierten Ziele in Bezug auf die Interaktion mit der Bevölkerung, die betriebswirtschaftliche Ausrichtung der IT und eine technische Standardisierung führten schließlich zur Gründung der Bundesrechenzentrum GmbH, die zur Gänze im Eigentum der Republik Österreich steht.

„Das Recruiting hat sich auch bei uns sehr stark verändert. Derzeit sind wir es, die sich bei den Kandidatinnen und Kandidaten bewerben.“

Christine Sumper-Billinger, Kaufmännische Geschäftsführerin

Das Bundesrechenzentrum mit Sitz in Wien treibt die Digitalisierung des öffentlichen Sektors in Österreich voran.
Fotos: BRZ/Alek Kawka, Ian Ehm/Verlagsgruppe News/picturedesk.com

Eine Basisfinanzierung durch die Regierung erhält die Einrichtung nicht. „Das BRZ ist ein privatwirtschaftlich geführtes Unternehmen und verrechnet marktkonforme Preise“, erklärt Christine Sumper-Billinger, die als kaufmännische Geschäftsführerin für die Bereiche Finance & Legal sowie HR zuständig ist. Das Unternehmen ist nicht gewinnorientiert: „Wir agieren auf Basis des Kostendeckungsprinzips. Überschüsse werden einerseits als Gutschriften an die Auftraggeber zurückgegeben, andererseits den Rücklagen des Unternehmens zur Finanzierung digitaler Innovationen für die Verwaltung zugeführt.“

Personal als Asset

Derzeit sind es um die 1.600 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die im BRZ Kundenprojekte umsetzen und Innovationen ertüfteln, 100 offene Stellen warten auf geeignete Bewerberinnen und Bewerber. „Das Recruiting hat sich auch bei uns sehr stark verändert. Derzeit sind wir es, die sich bei den Kandidatinnen und Kandidaten bewerben“, erzählt Christine Sumper-Billinger. Bei der Suche nach Personal spielen soziale Medien eine wichtige Rolle. Die Präsenz des BRZ auf Facebook, LinkedIn, YouTube, Twitter und Instagram ist darauf ausgerichtet, Interesse an den vielfältigen Karrierechancen zu wecken.

Denn die Zufriedenheit mit den Aufgaben ist neben angemessener Bezahlung und der Möglichkeit, im Homeoffice zu arbeiten, mittlerweile eine wesentliche Anforderung beim Recruiting. „Wir haben das Glück, dass unsere Projekte als sinnstiftend wahrgenommen werden“, sagt Christine Sumper-Billinger, „bei uns gestaltet man die IT eines Landes und erleichtert den Bürgerinnen und Bürgern den Umgang mit der Verwaltung, das ist ein Beitrag zum Gemeinwohl.“ Die Aktivitäten wurden bereits mehrfach mit dem Best Recruiters Award ausgezeichnet, aber auch auf diesem Gebiet gilt es, sich stetig weiterzuentwickeln. „Wir waren heuer erstmals auf einer Gaming-Messe, und seit kurzem ist das BRZ auch auf TikTok vertreten“, verrät die Geschäftsführerin.

Zudem bietet das BRZ auch Aus- und Weiterbildung an, um das Potenzial seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu fördern, und achtet darauf, persönliche Stärken zu unterstützen. An Projekten arbeiten im BRZ eingespielte Teams, von der Ideenfindung und Konzeption über die konkrete Umsetzung und Abwicklung bis hin zum Monitoring des laufenden Betriebs. Die Verteilung der Aufgaben hängt nicht zuletzt von deren Umfang ab, erklärt Roland Ledinger: „Es gibt Projekte, die innerhalb eines Teams abgewickelt werden. Andere werden von fünf bis sechs Teams gleichzeitig bearbeitet.“

„Wir arbeiten daran, Verwaltungsaufgaben im Hintergrund zu erledigen, ohne dass sich die Menschen aktiv darum kümmern müssen.“

Roland Ledinger, Technischer Geschäftsführer

„Auch die Verwaltung wird sich in Zukunft stärker mit Automatisierung auseinandersetzen müssen“, ist Roland Ledinger überzeugt. Augmented Reality, Robotics und künstliche Intelligenz helfen schon jetzt beispielsweise dabei, Fotos oder Akten zu anonymisieren. Gemeinsam mit seinem Auftraggeber, dem Bundesministerium für Justiz, wurde das BRZ kürzlich mit dem eAward 2022 in der Kategorie „Machine Learning und künstliche Intelligenz“ ausgezeichnet.

Die automatisierte Anonymisierung von Gerichtsentscheidungen, vor deren Veröffentlichung die Namen von Beschuldigten geschwärzt werden müssen, Richterinnen und Richter sowie Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter aber lesbar bleiben sollen, hatte die Jury überzeugt. Die Arbeit in vernetzten Teams ermöglicht auch die Entwicklung von Lösungen, die projektübergreifend eingesetzt werden können, etwa eigene Verfahren zur Identitätsbestätigung in einer Videokonferenz.

Europäisch denken

Während die technischen Möglichkeiten seit der flächendeckenden Verbreitung des Internets nahezu grenzenlos sind, gibt es vor allem in der öffentlichen Verwaltung auch juristische Hintergründe zu beachten. „Eine eventuelle internationale Datenvernetzung hängt von den rechtlichen Möglichkeiten ab, aber wir sind über EURITAS in ständigem Wissensaustausch mit anderen öffentlichen IT-Dienstleistern in Europa“, erzählt Roland Ledinger. „Ein Schwerpunkt ist derzeit, die Cloudtechnologie so zu etablieren, dass wir innereuropäisch Lösungen austauschen können.“

Dafür müssen Standards implementiert werden, um etwa Rechenleistung von anderen Zentren zu übernehmen. Der österreichische Digitale Führerschein basiert etwa auf einem ISO-Standard, um den internationalen Datenaustausch über Schnittstellen zu ermöglichen, wenn der gesetzliche Rahmen geklärt ist. „Diese Lösung läuft bereits auf einer cloudfähigen Plattform im BRZ, andere Mitgliedstaaten könnten sie sofort übernehmen“, so Ledinger.

Roland Ledinger und Christine Sumper-Billinger bilden die Geschäftsführung des BRZ.
Foto: Klaus Vyhnalek

Strategien und Zukunftspläne sind in einem schnelllebigen Bereich wie der Digitalisierung essenziell – und gleich-zeitig besonders schwierig. Die Ausrichtung des BRZ ist in jedem Fall, die Kommunikation zwischen der öffentlichen Verwaltung und der Bevölkerung zu verbessern, ohne dabei selbst im Vordergrund zu stehen. „Unser Ansatz ist, die Bürgerin und den Bürger mit administrativen Angelegenheiten so wenig wie möglich zu belasten“, betont Roland Ledinger. „Der Mensch steht im Mittelpunkt. Anders als andere Marktteilnehmer wollen wir nicht mehr Frequenz für unsere Services generieren, sondern im Gegenteil: Notwendige Administration soll so ablaufen, dass man es gar nicht merkt.“

So, wie beim Abschluss einer Autoversicherung die Anmeldung des Kfz automatisch erfolgt, lassen sich auch in vielen öffentlichen Bereichen vergleichbare Automatismen denken: etwa bei der Ummeldung des Wohnsitzes nach Abschluss eines Mietvertrags oder bei der Anmeldung am Standesamt nach einer Geburt, ohne dass der Prozess persönlich initiiert werden muss. „Wir arbeiten daran, Verwaltungsaufgaben zunehmend im Hintergrund zu erledigen, ohne dass sich die Menschen aktiv darum kümmern müssen“, fasst Roland Ledinger zusammen.

Moderne Methoden.

Das Bundesrechenzentrum beschäftigt sich laufend mit Innovationen auf dem IT-Markt. Als zentrale Stelle für neue Wege der Ideenfindung betreibt das BRZ eine bereichsübergreifende Innovation Factory. „Thinking outside the box“ ist dort ausdrücklich erwünscht.

www.brz.gv.at
Seine schiere Größe und das historische Gewicht seiner Bestände machen das Österreichische Staatsarchiv zu einem der bedeutendsten Orte der Forschung in Europa. Das Publikum wird immer vielfältiger, die Nutzung immer digitaler.

Text: Clemens Stachel

 

Rein äußerlich versprüht das Österreichische Staatsarchiv unverkennbar den Charme der 1980er Jahre. Der massive Zweckbau in der Wiener Nottendorfer Gasse verleugnet weder Herkunft noch Bestimmung: Was zählt, sind die inneren Werte. Im Jahr 1987 wurde das neue Zentralarchiv eröffnet – damals ein Pionier auf dem unbebauten Erdberger Mais. Zum ersten Mal seit seiner Gründung im Jahr 1945 waren alle Abteilungen des Staatsarchivs in einem Gebäude vereint. Alle bis auf eine: Die Bestände des alten Haus-, Hof- und Staatsarchivs blieben, wo sie waren – am Minoritenplatz.

„Davor waren die Bestände des Staatsarchivs quer über die Stadt verstreut“, erinnert sich Generaldirektor Helmut Wohnout. „An mehreren kleinen Standorten, die überhaupt nicht als Archive gebaut waren. Ohne Belüftung, ohne Brandabschnitte. Das neue Haus bot endlich die Lagerungsbedingungen, die ein Archiv braucht – mit Brandschutz und Klimaanlage auf der Höhe der Zeit. Und mit einem modernen Lesesaal, der den Forscherinnen und Forschern ein angenehmes Arbeiten ermöglicht.“

Generaldirektor Helmut Wohnout und der Direktor des Archivs der Republik, Rudolf Jeřábek, stöbern im Depot.
Fotos: Österreichisches Staatsarchiv, Marion Pertschy (4)

Unter dem Dach des Österreichischen Staatsarchivs sind vier Abteilungen vereinigt: Neben dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in dem unter anderem die Urkundensammlung und der größte Teil der überlieferten Akten des Heiligen Römischen Reiches lagern, sind dies das Allgemeine Verwaltungs- und Hofkammerarchiv, das Kriegsarchiv und das Archiv der Republik (AdR). Letzteres wurde erst in den 1980er Jahren etabliert als jene Abteilung, die im Wesentlichen die Zeit ab 1918 abdeckt. Hier landet also laufend „Bundesschriftgut, das eine Qualität als Archivgut hat“, wie es AdR-Direktor Rudolf Jeřábek zusammenfasst. „Wir sind die Schnittstelle zwischen der aktuellen Verwaltung, der Geschichtsforschung und der Rechtssicherung.“

Zu entscheiden, ob und wann genau ein Akt ins Staatsarchiv wandert, obliegt am Ende freilich den Dienststellen selbst. „Laut Bundesarchivgesetz ist uns Schriftgut ohne personenbezogene Daten nach 30 Jahren ‚anzubieten‘, aber wenn es für die aktuelle Verwaltung weiterhin benötigt wird, nehmen wir es der Dienststelle natürlich auch nicht weg“, so Jeřábek. Denn im Archiv soll nur landen, was als vergangen, als „inhaltlich abgeschlossen“ gelten kann.

Bereits seit 1987 residiert das Zentralarchiv in Wien-Erdberg (unten). Es kann mit 50.000 m2 Speicherfläche in 15 Geschoßen – davon sechs unterirdisch – aufwarten.

Kulturwandel

Klischees sind dazu da, um mit ihnen zu brechen. Und so sollte auch, wer heute das Staatsarchiv als Benutzerin oder Benutzer besucht, klischeebehaftete Vorstellungen von komplizierten Bestellprozeduren und knorrigen Archivaren schon an der Garderobe abgeben. „Früher hatten viele Archivare das Selbstverständnis, wonach sie sich in allererster Linie als Hüter der ihnen anvertrauten Bestände sahen. Der Servicegedanke stand dabei nicht immer im Vordergrund“, erinnert sich Generaldirektor Wohnout an seine eigene Studienzeit. „Da hat ein enormer Paradigmenwechsel stattgefunden: Archivarinnen und Archivare kümmern sich heute durchwegs proaktiv um die Anliegen der Besucherinnen und Besucher, um ihnen die bestmöglichen Voraussetzungen für ihre Forschung anzubieten.“

In den letzten dreißig bis vierzig Jahren habe sich auch das Publikum auffällig diversifiziert, so Wohnout weiter: „Früher haben fast ausschließlich Forscherinnen und Forscher aus dem akademischen Milieu zu uns gefunden. Heute haben wir interessierte Benutzerinnen und Benutzer aus allen Bevölkerungsgruppen im Haus. Ein Hauptgrund dafür ist sicherlich der Boom der Familienforschung.“

„Archivarinnen und Archivare kümmern sich heute durchwegs proaktiv um die Anliegen der Besucherinnen und Besucher.“

Helmut Wohnout

Je größer der Andrang, desto höher die Chance, dass gänzlich unberührte Dokumente auch einmal das gardinengedimmte Tageslicht des Lesesaals erblicken. Und das sind mehr, als man glaubt. „Viele Aktenbestände sind, seit sie abgelegt wurden, komplett unbenützt“, erklärt AdR-Direktor Jeřábek. „Gerade auch aus der Zeit der Ersten Republik gibt es noch reichlich Material, in das noch nie jemand hineingeschaut hat.“ Es sei nun einmal so, stellt der Direktor trocken fest, dass „90 Prozent der Forscherinnen und Forscher sich für dieselben zehn Prozent der Akten“ interessierten.

„Ein Brief wie ein Kunstwerk“, sagt Generaldirektor Wohnout über diese Notiz Gustav Klimts aus dem Jahr 1908 an das damalige Unterrichtsministerium, das gerade sein Bild „Liebespaar“ – später „Der Kuss“ genannt – angekauft hatte.

Digital kommt, analog bleibt

Die Digitalisierung ist eine große Chance, um bislang unbekannte Dokumente abseits der „Trampelpfade“ unter die wissenschaftliche Community zu bringen. Helmut Wohnout macht bei-spielhaft auf ein seit 2007 laufendes Erschließungsprojekt aufmerksam, das die umfangreichen Akten des kaiserlichen Reichshofrats ab dem 16. Jahrhundert erstmals systematisch verzeichnet und sowohl in Buchform als auch digital veröffentlicht. Am Ende des achtzehnjährigen Prozesses wird dieses Verzeichnis 15 Bände umfassen. „Und dann haben wir noch immer erst rund 13 Prozent aller Gerichtsakten des Reichshofrats tiefenerschlossen“, so Wohnout. Historikerinnen und Historiker aus aller Welt können dann on-line einen Blick „in die Kartons“ werfen und ihren Besuch im Archiv effizienter planen.

„Wenn ein Dokument für die aktuelle Verwaltung benötigt wird, nehmen wir es der Dienststelle natürlich nicht weg.“

Rudolf Jeřábek

Das wirft die Frage auf: Warum überhaupt noch anreisen, wenn es doch Scanner und das Internet gibt? „Wir haben viele Anfragen wegen konkreter Dokumente, und gegen eine Gebühr fertigen wir dann gerne extra Scans an und versenden diese“, erklärt Wohnout. „Eine vollständige Massendigitalisierung des Gesamtbestandes ist aber unrealistisch. Das Scannen von Archivgut funktioniert ja anders als bei einem Buch. Jedes Stück Papier hat eine andere Größe, eine andere Qualität, einen anderen Zustand.“ Und doch hat das Staatsarchiv in den vergangenen Jahren bereits über sechs Millionen (!) Einheiten digitalisiert. Wie viel Prozent des gesamten Archivs sind das? Rudolf Jeřábek lächelt: „Ein Bruchteil. Wenn auch ein wichtiger – angesichts der überwältigenden Menge.“

Außerdem gebe es ja auch noch den „Hauch der Geschichte“, wie Wohnout bemerkt: „Einen Akt mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Händen zu greifen, kann wichtig sein. Es gibt ja bei Dokumenten oft Eigenheiten, etwa handschriftliche Randbemerkungen, denen man am Original viel besser nachspüren kann.“

Darf man also bei einer solchen Menge von Akten, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten ihrer Aufarbeitung harren, auch noch mit echten Sensationsfunden rechnen? „Im Prinzip ja“, sagt Generaldirektor Wohnout. „Wobei die Beurteilung als ‚sensationell‘ natürlich immer subjektiv ist. Einen Fund, nach dem man die österreichische Geschichte der Neuzeit komplett umschreiben müsste, halte ich für unrealistisch. Ich bin aber überzeugt, dass bei uns jeden Tag Forscherinnen und Forscher in ihrem Fachgebiet auf Neues und Unerwartetes stoßen.“

Beim Stöbern im Depot spürt man den „Hauch der Geschichte“.

Vom Herrschafts- zum Staatsarchiv

1749
Kaiserin Maria Theresia gründet das erste zentrale Herrschaftsarchiv des Hauses Habsburg. Die Archivräume befinden sich im Reichskanzleitrakt der Hofburg.

1899–1902
Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz wird als moderner Archivbau errichtet.

1945
Nach dem Ende des NS-Regimes in Österreich wird das Österreichische Staatsarchiv errichtet. Seine Bestände werden allerdings nicht zentral gelagert.

1987
Das neue Zentralarchiv in Wien-Erdberg wird eröffnet. Es kann mit 50.000 m2 Speicherfläche in 15 Geschoßen – davon sechs unterirdisch – aufwarten.

2003
Das Gebäude am Minoritenplatz wird renoviert und auf den konservatorisch neuesten Stand gebracht.

Kontakt.

Wer selbst einmal den Hauch der Vergangenheit spüren will, kann das Österreichische Staatsarchiv besuchen. Aktuelle Öffnungszeiten und Informationen zur Nutzung des Archivs finden sich auf der Website.

www.oesta.gv.at