15.12.2022 Die Republik

Der Hauch der Geschichte

Seine schiere Größe und das historische Gewicht seiner Bestände machen das Österreichische Staatsarchiv zu einem der bedeutendsten Orte der Forschung in Europa. Das Publikum wird immer vielfältiger, die Nutzung immer digitaler.

Text: Clemens Stachel

 

Rein äußerlich versprüht das Österreichische Staatsarchiv unverkennbar den Charme der 1980er Jahre. Der massive Zweckbau in der Wiener Nottendorfer Gasse verleugnet weder Herkunft noch Bestimmung: Was zählt, sind die inneren Werte. Im Jahr 1987 wurde das neue Zentralarchiv eröffnet – damals ein Pionier auf dem unbebauten Erdberger Mais. Zum ersten Mal seit seiner Gründung im Jahr 1945 waren alle Abteilungen des Staatsarchivs in einem Gebäude vereint. Alle bis auf eine: Die Bestände des alten Haus-, Hof- und Staatsarchivs blieben, wo sie waren – am Minoritenplatz.

„Davor waren die Bestände des Staatsarchivs quer über die Stadt verstreut“, erinnert sich Generaldirektor Helmut Wohnout. „An mehreren kleinen Standorten, die überhaupt nicht als Archive gebaut waren. Ohne Belüftung, ohne Brandabschnitte. Das neue Haus bot endlich die Lagerungsbedingungen, die ein Archiv braucht – mit Brandschutz und Klimaanlage auf der Höhe der Zeit. Und mit einem modernen Lesesaal, der den Forscherinnen und Forschern ein angenehmes Arbeiten ermöglicht.“

Generaldirektor Helmut Wohnout und der Direktor des Archivs der Republik, Rudolf Jeřábek, stöbern im Depot.
Fotos: Österreichisches Staatsarchiv, Marion Pertschy (4)

Unter dem Dach des Österreichischen Staatsarchivs sind vier Abteilungen vereinigt: Neben dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in dem unter anderem die Urkundensammlung und der größte Teil der überlieferten Akten des Heiligen Römischen Reiches lagern, sind dies das Allgemeine Verwaltungs- und Hofkammerarchiv, das Kriegsarchiv und das Archiv der Republik (AdR). Letzteres wurde erst in den 1980er Jahren etabliert als jene Abteilung, die im Wesentlichen die Zeit ab 1918 abdeckt. Hier landet also laufend „Bundesschriftgut, das eine Qualität als Archivgut hat“, wie es AdR-Direktor Rudolf Jeřábek zusammenfasst. „Wir sind die Schnittstelle zwischen der aktuellen Verwaltung, der Geschichtsforschung und der Rechtssicherung.“

Zu entscheiden, ob und wann genau ein Akt ins Staatsarchiv wandert, obliegt am Ende freilich den Dienststellen selbst. „Laut Bundesarchivgesetz ist uns Schriftgut ohne personenbezogene Daten nach 30 Jahren ‚anzubieten‘, aber wenn es für die aktuelle Verwaltung weiterhin benötigt wird, nehmen wir es der Dienststelle natürlich auch nicht weg“, so Jeřábek. Denn im Archiv soll nur landen, was als vergangen, als „inhaltlich abgeschlossen“ gelten kann.

Bereits seit 1987 residiert das Zentralarchiv in Wien-Erdberg (unten). Es kann mit 50.000 m2 Speicherfläche in 15 Geschoßen – davon sechs unterirdisch – aufwarten.

Kulturwandel

Klischees sind dazu da, um mit ihnen zu brechen. Und so sollte auch, wer heute das Staatsarchiv als Benutzerin oder Benutzer besucht, klischeebehaftete Vorstellungen von komplizierten Bestellprozeduren und knorrigen Archivaren schon an der Garderobe abgeben. „Früher hatten viele Archivare das Selbstverständnis, wonach sie sich in allererster Linie als Hüter der ihnen anvertrauten Bestände sahen. Der Servicegedanke stand dabei nicht immer im Vordergrund“, erinnert sich Generaldirektor Wohnout an seine eigene Studienzeit. „Da hat ein enormer Paradigmenwechsel stattgefunden: Archivarinnen und Archivare kümmern sich heute durchwegs proaktiv um die Anliegen der Besucherinnen und Besucher, um ihnen die bestmöglichen Voraussetzungen für ihre Forschung anzubieten.“

In den letzten dreißig bis vierzig Jahren habe sich auch das Publikum auffällig diversifiziert, so Wohnout weiter: „Früher haben fast ausschließlich Forscherinnen und Forscher aus dem akademischen Milieu zu uns gefunden. Heute haben wir interessierte Benutzerinnen und Benutzer aus allen Bevölkerungsgruppen im Haus. Ein Hauptgrund dafür ist sicherlich der Boom der Familienforschung.“

„Archivarinnen und Archivare kümmern sich heute durchwegs proaktiv um die Anliegen der Besucherinnen und Besucher.“

Helmut Wohnout

Je größer der Andrang, desto höher die Chance, dass gänzlich unberührte Dokumente auch einmal das gardinengedimmte Tageslicht des Lesesaals erblicken. Und das sind mehr, als man glaubt. „Viele Aktenbestände sind, seit sie abgelegt wurden, komplett unbenützt“, erklärt AdR-Direktor Jeřábek. „Gerade auch aus der Zeit der Ersten Republik gibt es noch reichlich Material, in das noch nie jemand hineingeschaut hat.“ Es sei nun einmal so, stellt der Direktor trocken fest, dass „90 Prozent der Forscherinnen und Forscher sich für dieselben zehn Prozent der Akten“ interessierten.

„Ein Brief wie ein Kunstwerk“, sagt Generaldirektor Wohnout über diese Notiz Gustav Klimts aus dem Jahr 1908 an das damalige Unterrichtsministerium, das gerade sein Bild „Liebespaar“ – später „Der Kuss“ genannt – angekauft hatte.

Digital kommt, analog bleibt

Die Digitalisierung ist eine große Chance, um bislang unbekannte Dokumente abseits der „Trampelpfade“ unter die wissenschaftliche Community zu bringen. Helmut Wohnout macht bei-spielhaft auf ein seit 2007 laufendes Erschließungsprojekt aufmerksam, das die umfangreichen Akten des kaiserlichen Reichshofrats ab dem 16. Jahrhundert erstmals systematisch verzeichnet und sowohl in Buchform als auch digital veröffentlicht. Am Ende des achtzehnjährigen Prozesses wird dieses Verzeichnis 15 Bände umfassen. „Und dann haben wir noch immer erst rund 13 Prozent aller Gerichtsakten des Reichshofrats tiefenerschlossen“, so Wohnout. Historikerinnen und Historiker aus aller Welt können dann on-line einen Blick „in die Kartons“ werfen und ihren Besuch im Archiv effizienter planen.

„Wenn ein Dokument für die aktuelle Verwaltung benötigt wird, nehmen wir es der Dienststelle natürlich nicht weg.“

Rudolf Jeřábek

Das wirft die Frage auf: Warum überhaupt noch anreisen, wenn es doch Scanner und das Internet gibt? „Wir haben viele Anfragen wegen konkreter Dokumente, und gegen eine Gebühr fertigen wir dann gerne extra Scans an und versenden diese“, erklärt Wohnout. „Eine vollständige Massendigitalisierung des Gesamtbestandes ist aber unrealistisch. Das Scannen von Archivgut funktioniert ja anders als bei einem Buch. Jedes Stück Papier hat eine andere Größe, eine andere Qualität, einen anderen Zustand.“ Und doch hat das Staatsarchiv in den vergangenen Jahren bereits über sechs Millionen (!) Einheiten digitalisiert. Wie viel Prozent des gesamten Archivs sind das? Rudolf Jeřábek lächelt: „Ein Bruchteil. Wenn auch ein wichtiger – angesichts der überwältigenden Menge.“

Außerdem gebe es ja auch noch den „Hauch der Geschichte“, wie Wohnout bemerkt: „Einen Akt mit eigenen Augen zu sehen und mit eigenen Händen zu greifen, kann wichtig sein. Es gibt ja bei Dokumenten oft Eigenheiten, etwa handschriftliche Randbemerkungen, denen man am Original viel besser nachspüren kann.“

Darf man also bei einer solchen Menge von Akten, die seit Jahrzehnten und Jahrhunderten ihrer Aufarbeitung harren, auch noch mit echten Sensationsfunden rechnen? „Im Prinzip ja“, sagt Generaldirektor Wohnout. „Wobei die Beurteilung als ‚sensationell‘ natürlich immer subjektiv ist. Einen Fund, nach dem man die österreichische Geschichte der Neuzeit komplett umschreiben müsste, halte ich für unrealistisch. Ich bin aber überzeugt, dass bei uns jeden Tag Forscherinnen und Forscher in ihrem Fachgebiet auf Neues und Unerwartetes stoßen.“

Beim Stöbern im Depot spürt man den „Hauch der Geschichte“.

Vom Herrschafts- zum Staatsarchiv

1749
Kaiserin Maria Theresia gründet das erste zentrale Herrschaftsarchiv des Hauses Habsburg. Die Archivräume befinden sich im Reichskanzleitrakt der Hofburg.

1899–1902
Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv am Minoritenplatz wird als moderner Archivbau errichtet.

1945
Nach dem Ende des NS-Regimes in Österreich wird das Österreichische Staatsarchiv errichtet. Seine Bestände werden allerdings nicht zentral gelagert.

1987
Das neue Zentralarchiv in Wien-Erdberg wird eröffnet. Es kann mit 50.000 m2 Speicherfläche in 15 Geschoßen – davon sechs unterirdisch – aufwarten.

2003
Das Gebäude am Minoritenplatz wird renoviert und auf den konservatorisch neuesten Stand gebracht.

Kontakt.

Wer selbst einmal den Hauch der Vergangenheit spüren will, kann das Österreichische Staatsarchiv besuchen. Aktuelle Öffnungszeiten und Informationen zur Nutzung des Archivs finden sich auf der Website.

www.oesta.gv.at