06.06.2023 Die Republik

„Die Demokratie muss es aushalten, bekämpft zu werden“

Magazin
Sinkende Glaubwürdigkeit trifft wachsendes Ohnmachtsgefühl: Was ist los mit der Demokratie in Europa? Woran leidet sie, welche Innovationen braucht sie? Ein Gespräch zwischen Andreas Treichl, Präsident des Europäischen Forums Alpbach, und der Politikwissenschaftlerin Daniela Ingruber.

Interview: Clemens Stachel
Fotos: Marion Pertschy

 

Herr Präsident Treichl, was war das letzte Volksbegehren, das Sie unterschrieben haben?

Andreas Treichl: Ehrlich gestanden kann ich nicht sagen, ob ich jemals ein Volksbegehren unterzeichnet habe. Anfang der 1980er Jahre gab es eines gegen den Bau eines Konferenzzentrums in Wien. Ich fand das damals so absurd, dass ich für mich beschlossen habe: An so etwas möchte ich mich nicht beteiligen.

Und Sie, Frau Ingruber?

Daniela Ingruber: Das letzte, das ich unterschrieben habe, war das zum Klimaschutz vor drei Jahren. Ich  hatte allerdings nicht das Gefühl, dass ich damit etwas bewirke. Volksbegehren sind einfach ein veraltetes Instrument der Demokratie. Außerdem verzweifle ich regelmäßig daran, wie wenig die Menschen Bescheid wissen über die Inhalte von Volksbegehren. Man bekommt in der Regel keine verlässliche Information darüber, es sei denn, man recherchiert selbst.

„Reinforcing Democracy in Europe“ lautet ein Schwerpunkt des diesjährigen Europäischen Forums  Alpbach. Warum braucht die Demokratie in Europa einen Anschub?

Treichl: Wenn wir uns die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ansehen, bemerken wir in manchen dieser Länder einen besorgniserregenden Trend: Demokratische Politikerinnen und Politiker agieren, sobald sie an der Regierung sind, zunehmend autokratisch. Wir haben mit Ungarn und Polen
zwei Beispiele dafür in unmittelbarer Nachbarschaft. In beiden Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten ein stabiler Mittelstand entwickelt, was eigentlich eine der Grundlagen einer funktionierenden Demokratie wäre. Trotzdem driften diese Gesellschaften zumindest teilweise in Richtung Autokratie. Eine andere Entwicklung, die wir in ganz Europa beobachten: Regierungen, die den Wohlstand ihrer Länder gesichert oder sogar erhöht haben, wurden und werden brutal abgewählt zugunsten von populistischen Parteien. In Alpbach stellen wir uns die Frage: Was können wir, was kann die Zivilgesellschaft gegen eine drohende Entdemokratisierung in Europa tun? Welche Werkzeuge der Demokratie gehören erneuert? Können wir  neue erfinden?

Andreas Treichl, Aufsichtsratsvorsitzender der Erste Stiftung, ist seit 2020 Präsident des Europäischen Forums Alpbach. Das EFA findet heuer von 19. August bis 2. September statt und steht unter dem Jahresmotto „Bold Europe“ – also „mutiges Europa“.

Was sind die strukturellen Gründe dieser Demokratiekrise?

Ingruber: In Österreich müssen wir uns um die demokratischen Strukturen, denke ich, keine Sorgen machen. Viel eher um das verschobene Berufsbild des Politikers und der Politikerin. Man sollte sich wieder vergegenwärtigen: Es handelt sich hier um eine Dienstleistung an der Gesellschaft. Gerade in einer Zeit, in  der wir mit großen Krisen konfrontiert sind, bräuchten wir Politikerinnen und Politiker, die in größeren Zusammenhängen und über die Legislaturperiode hinaus denken können. Dieser Zugang zu Politik kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen ihn auch entsprechend honorieren. Populistische Parteien gründen ihren Erfolg ja auf einem Mangel an politischer Bildung und an kritischer Medienkompetenz in der Bevölkerung. Beide sollten längst Hauptfächer in den Schulen sein, gleichgestellt mit Deutsch oder Mathematik.

Das symbolträchtigste Instrument der modernen Demokratie, das Parlament, kommt ja aus einer Zeit vor E-Mails, Online-Votings und Zoom-Konferenzen. Könnte man die Volksvertretung heute nicht viel effizienter organisieren? 

Treichl: Lassen Sie mich eine Parallele zur Wirtschaft ziehen: Man braucht heute auch keine Börsen als physische Orte mehr, um Geschäfte zu machen. Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass man irgendwann einmal auch das Parlament als Ort nicht mehr so benutzt wie heute. Vielleicht verlegt man
es ja bald zu 100 Prozent ins Homeoffice (lacht).

Ingruber: (lacht) Eine Schreckensvision! Ich sehe das Parlament selbst nicht aus der Zeit gefallen. Im Gegenteil, das Problem in Österreich ist  doch, dass der Parlamentarismus in den letzten Jahren massiv geschwächt worden ist. Das Parlament ist zu einem Ort geworden, an dem nur noch abgesegnet oder – von der Opposition – widersprochen wird, was die Regierung ihm vorlegt. Das Parlament muss viel
selbstbewusster werden, selbst initiativ  Gesetzesvorschläge einbringen, als eine echte Interessenvertretung der Gesellschaft agieren.

Daniela Ingruber ist Politikwissenschaftlerin an der Universität für Weiterbildung Krems. Von 2018 bis 2023 war sie Teil des dort verankerten Austrian Democracy Lab. Sie forscht vor allem zu den Themen Demokratie, Medien und Krieg.

Also ein Plädoyer gegen Parteien, wie wir sie zurzeit kennen?

Ingruber: Ja, die Parteien, so wie sie sich heute präsentieren, sind im Gegensatz zum Parlament definitiv veraltet.

Treichl: Wobei es in der Regel die Regierungsparteien sind, die sich das Parlament unterordnen. Und das wäre für mich schon der erste Schritt zur Autokratie. In unserem westlichen Nachbarland Schweiz haben wir derartige Phänomene gar nicht. Es gibt mehr Mitbestimmung der Bevölkerung, das Wohlstandsniveau ist höher – da kann man sich fragen, warum ist das so? Eine Antwort wäre: Außerhalb der Schweiz kennt niemand einen Schweizer Politiker. Das dortige System beschränkt etwaige Machtgelüste Einzelner. Politik als echter Dienst an der Bevölkerung wird viel ernster genommen.

Ingruber: Wir können uns auch an Norwegen ein Vorbild nehmen, einem Land, das im Demokratie-Index weltweit stets an erster Stelle steht. Politikerinnen und Politiker werden dort nicht als Elite  wahrgenommen, und die Parlamentsparteien sind es gewohnt zu kooperieren.

In der politischen Debatte in Österreich wurde in den letzten Jahren an Grundpfeilern der Demokratie gesägt: Die Menschenrechte oder das Asylrecht werden zur Verhandlungsmasse der Tagespolitik. Sind das Alarmsignale einer Entdemokratisierung? Oder muss eine gefestigte Demokratie derartige Diskussionen
„aushalten“?

Ingruber: Hans Kelsen hat gesagt: Die Demokratie ist das einzige Regierungssystem, das es aushalten muss, herabgewürdigt und bekämpft zu werden. Nicht nur das – sie muss Widerspruch sogar aktiv ermöglichen. Bei Grund-und Menschenrechten bin ich allerdings sehr empfindlich. Eine der wenigen Verfassungsänderungen, die ich anregen würde, wäre ein Grund- und Menschenrechtskatalog gleich nach dem Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes.

Treichl: Ich denke, dass diese bewusste Zuspitzung der politischen Debatte eine Folge der sozialen Medien ist. Politikerinnen und Politiker sind heutzutage 24 Stunden am Tag exponiert. Sie orientieren sich zunehmend daran, was die Menschen hören wollen und womit sie in die Medien kommen, als an ihren echten Überzeugungen und daran, was das Richtige wäre.

Ingruber: Auch diese Frage führt uns also zum Spannungsfeld Medien/Politik zurück. Der Druck auf Politikerinnen und Politiker nimmt durch Social Media enorm zu, wie ich aus meinen  Forschungsinterviews weiß. Viele von ihnen erzählen mir, dass sie immer heftiger beschimpft werden – vor allem Frauen. Die ziehen sich dann oft wieder zurück. Wenn wir als Gesellschaft es nicht schaffen, diese Dynamik der Politikerbeschimpfungen einzudämmen, werden wir bald nur noch jene Leute in der Politik haben, die gar nichts zum Guten verändern wollen, sondern sich ausschließlich um die eigene Beliebtheit sorgen.

Treichl: Diese Entwicklung hat sich mittlerweile auf das „echte Leben“ ausgebreitet – bis hinunter auf die Gemeindeebene. Es gibt Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die den gesellschaftlichen Druck nicht mehr aushalten wollen und daher zurücktreten.

Ingruber: Eine Demokratie ist immer nur so stark, wie die Bevölkerung es zulässt. Ich bemerke in meiner  Forschung die Tendenz, dass immer mehr Menschen sich wieder einen Diktator an der Spitze des Staates vorstellen könnten, „einen wie Putin“. Es ist völlig verrückt. Gleichzeitig sind diese Menschen aber
nicht verrückt oder dumm, sondern sie folgen einfach aufgeheizten Erzählungen. Diese Social-Media-Welt der Verschwörungstheorien und Fake News ist wirklich eine riesige Herausforderung für unsere Demokratie.

„Politische Bildung und kritische Medienkompetenz sollten längst Hauptfächer in den Schulen sein.“

Daniela Ingruber

Ist es nicht ein demokratiepolitisches Problem, dass in Österreich immer weniger Menschen wählen dürfen – bei wachsender Bevölkerung? Sollte man also das Wahlrecht auf hier lebende Menschen ohne Staatsbürgerschaft ausweiten? Oder den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern?

Ingruber: Beides wäre dringend notwendig, das ist überhaupt keine Frage.

Treichl: Die heutige Situation ist absurd, natürlich muss man sie ändern.

Ein weiterer Krisenaspekt der Demokratie ist ökonomischer Natur: Die Zahl der Menschen, die sich „abgehängt“ fühlen, steigt in den westlichen Ländern.

Treichl: Die Situation in den USA ist etwas drastischer als in Europa: Daher sind die Spaltungstendenzen der Gesellschaft noch etwas ausgeprägter als hier. Wir müssen achtgeben, dass wir diese Entwicklung einbremsen können. Dabei spielt auch das Auseinanderklaffen der Wohlstandsschere eine Rolle und wir müssen in Europa aufpassen, dass der breite Mittelstand nicht zum großen Verlierer der nächsten Jahrzehnte wird. Und das ist auch in demokratiepolitischer Hinsicht wichtig, weil ein breiter Mittelstand die beste Basis für eine Demokratie ist. Die Vermögensverteilung driftet rasant auseinander und damit auch die Gesellschaft. Es ist eine Entwicklung, die auch Europa betreffen wird, und die so schnell geht,
dass wir sie vielleicht gar nicht richtig wahrnehmen.

Ingruber: Die Menschen brauchen einen gewissen Wohlstand, um über Demokratie nachdenken und sie auch mit Leben erfüllen zu können. Es geht hier gar nicht um Reichtum, sondern um ein Gefühl der Fairness und um Instrumente der Transparenz: Wie viel verdienen einzelne Berufe, und warum?
Es gibt so viele Menschen, die viel zu wenig verdienen, gemessen an den Leistungen, die sie für die  Gesellschaft erbringen. Eine boomende Wirtschaft allein macht aber Demokratie nicht
besser. Das Wichtigste ist Bildung: es den Menschen zu ermöglichen, zu selbständigem Denken und zu gesellschaftlicher Teilhabe zu finden.

„Manche jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa driften in Richtung Autokratie.“

Andreas Treichl

Die Digitalisierung kam bis hierhin eher als Gefahr vor. Aber ist sie nicht auch eine große Chance für die Demokratie?

Ingruber: Sie ist zweifellos beides! Ich bin begeistert von neuen demokratischen Prozessen, die über  digitale Wege ermöglicht, beschleunigt oder verbreitet werden: Bürgerräte etwa sind ein tolles Beispiel für Partizipation abseits von Wahlen. In Österreich hatten wir letztes Jahr den „Klimarat“ aus 100 Bürgerinnen und Bürgern, der aus physischen Treffen und digitalen Elementen bestand. Derartige Zusammenkünfte von politisch engagierten Menschen wären sicher auch auf EU-Ebene möglich – da würde das natürlich  hauptsächlich über digitale Tools laufen.

Bürgerräte wären also ein alternatives Element zur parteienzentrierten Demokratie.

Ingruber: Genau. Große Teile der Bevölkerung wollen sich ja politisch engagieren, finden aber oft nicht die Foren, in denen sie sich einbringen könnten. Es fällt vielen jungen Menschen immer schwerer, sich mit einer der aktuellen Parteien zu identifizieren. Und wenn sie doch zu einer dazugehen, sind sie oft von deren starren internen Strukturen enttäuscht oder fühlen sich erst recht nicht gehört.

Treichl: Eine der großen Stärken des Forums Alpbach ist es, der nächsten Generation eine Plattform zu bieten, damit ihre Stimme gehört wird. Beim Austausch mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten, die nach Alpbach kommen, merkt man sehr wohl, dass junge Menschen ein großes Interesse daran haben, Politik mitzugestalten. Für ein besonders zukunftsorientiertes Beispiel war etwa das Forum Alpbach die Initialzündung: „Love Politics“, eine Initiative, die mit der Apolitical Foundation verbunden ist. Das ist eine neue Organisation, die jungen Menschen in Kursen das politische Handwerkszeug mitgibt, um im 21. Jahrhundert gute Politik zu machen. Innerhalb kurzer Zeit hatte die Initiative bereits 900 Anmeldungen.
Junge Menschen sind an einer neuen, konstruktiven Art des Politikmachens interessiert. Demokratie darf nicht langweilig sein, sondern muss Freude machen, sonst hat sie keine Chance in der Zukunft.

Europäisches Forum Alpbach.

Seit 1945 treffen sich Entscheidungsträgerinnen und Ideengeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einmal im Jahr in Alpbach. Das Tiroler Bergdorf hat deshalb den Beinamen „Dorf der Denker“ erhalten.

www.alpbach.org