15.12.2022 Die Republik

„Die EU ist nie etwas Fremdes“

Der erfahrene Diplomat Thomas Oberreiter leitet seit November 2021 die Sektion III – Europa & Wirtschaft im Außenministerium, die sich als Vernetzungszentrale für EU-Themen versteht. Im Interview erzählt der Sektionschef, warum er als 27-Jähriger im Verhandlungsteam für den österreichischen EU-Beitritt dabei war, was Europa und Wirtschaft miteinander verbindet und welchen Stellenwert „ein gutes Maß an Neugierde“ in der Diplomatie genießt.

Text: Cornelia Ritzer

 

Herr Botschafter, was sind für Sie die stärksten Anknüpfungspunkte zwischen den Bereichen Europa und Wirtschaft?

Das eine ist ohne das andere nicht denkbar, heute noch weniger als früher. Wir in der Sektion III des Außenministeriums sind zuständig für Österreichs bilaterale Beziehungen zu den anderen EU- und EFTA-Staaten. Und für eine offene, exportorientierte Nation wie Österreich ist die Wirtschaftsdimension wesentlich. Wobei Wirtschaft im weitesten Sinn zu verstehen ist: Wir haben Expertise zum Beispiel für Handelspolitik sowie für Energie-, Klima- und Verkehrspolitik.

Auch leben wir in einer zunehmend digitalen Welt, und unsere Sektion hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Tatsache stärker in die Diplomatie hereinzuholen. Tech Diplomacy und das Aufspüren neuer Trends ist ein großer Zukunftsbereich. Deshalb haben wir gemeinsam mit der Wirtschaftskammer ein Outlet, eine diplomatische Präsenz Österreichs, im Silicon Valley gegründet: Mit „Open Austria“, einem Gemeinschaftsprojekt der Außenwirtschaft Austria und dem Außenministerium, sind wir einer der ersten EU-Mitgliedstaaten, die so etwas geschaffen haben. Auch da ist der Konnex zwischen Wirtschaft und bilateralen Beziehungen zu anderen Staaten evident.

Wie gestaltet sich die ressortübergreifende Zusammenarbeit mit den Expertinnen und Experten anderer Ministerien?

Verschiedene Ressorts zu koordinieren, ist immer eine komplexe Aufgabe. Gleichzeitig ist allen Personen, die sich mit der EU befassen, bewusst, dass Österreich nur durch eine klare und einheitliche Position einen Impact erzielen kann. Dieses Denken macht es leichter, gemeinsame Positionen zu finden. Viele meiner Kolleginnen und Kollegen sind sehr erfahren in Verhandlungen, und das prägt. Das macht das Arbeiten hier – in einer großen Sektion mit vielen unterschiedlichen Persönlichkeiten – zu einer großen Freude.

Die Sektion III hat gute Erfahrungen mit anderen Ressorts und wir bemühen uns auch, Dienstleistungsanbieter bei Vernetzungsthemen zu sein. In den vergangenen Monaten haben wir etwa die Serie „Policy Briefings“ gestartet, in der Expertinnen und Experten verschiedener Ressorts für interessierte Botschaften Vorträge halten und für Diskussionen zur Verfügung stehen. Das Angebot wird gut angenommen.

„Allen Personen, die sich mit der EU befassen, ist bewusst, dass Österreich nur durch eine klare und einheitliche Position einen Impact erzielen kann.“

Vor Ihrer Funktion als Sektionsleiter waren Sie in verschiedenen diplomatischen Funktionen tätig. Welche Fähigkeiten und Ausbildungen sind für eine solche Karriere notwendig?

Ich habe sowohl fürs Außenministerium als auch fürs Bundeskanzleramt gearbeitet, auf Posten in Lateinamerika und Europa. Zwei Kontinente, zwei Arbeitgeber, manchmal mit extrem kurzen Vorlaufszeiten. Viele meiner Posten waren nicht planbar, wie etwa jener für die österreichische Übergangsregierung 2019/2020: Ich hatte eine Woche Zeit, um von Brüssel nach Wien zu übersiedeln. Wichtig in diesem Job ist also Flexibilität. Man muss bereit sein, schnell seine Zelte abzubrechen und woanders wieder aufzuschlagen. Es gibt für Diplomatinnen und Diplomaten keinen Versetzungsschutz, das ist natürlich eine Herausforderung für die Familien.

Eine wichtige Voraussetzung ist auch eine breite Vorbildung inklusive Sprachkenntnissen. Die Diplomatische Akademie in Wien ist eine gute Ausbildungsstätte, die das Basiswissen mitgibt. Und das vielleicht Wichtigste ist ein gutes Maß an Neugierde. Wir rotieren normalerweise alle vier Jahre auf einen neuen Posten, man ist selten Expertin oder Experte, sondern muss bereit sein, etwas Neues zu lernen. Was liegt hinter der nächsten Grenze, hinter der nächsten Verhandlungsposition meines Gegenübers – daran muss man interessiert sein.

Sie haben den fehlenden Versetzungsschutz angesprochen. Gibt es ein Vetorecht in Bezug auf Positionen, die man nicht will?

Wenn man eine Leitungsposition anstrebt, kann man mit einer Bewerbung etwas lenken. Aber meine erste Verwendung in Mexiko beispielsweise war weder angestrebt noch geplant. Doch es hat mir dann wahnsinnig gut gefallen und ich war traurig, dass es nach einem halben Jahr wieder zu Ende war.

Im Alter von 27 Jahren waren Sie Mitglied der Verhandlungsteams für den österreichischen EU-Beitritt. Heute würde man sich über junge Expertinnen und Experten nicht mehr wundern – war es damals etwas Außergewöhnliches?

Ich kam 1992 ins Außenministerium, 1993 haben die Beitrittsverhandlungen begonnen und man war auf der Suche nach jungen Kolleginnen und Kollegen, die bereit sind, viel Herzblut zu investieren. Es war ein schöner Zufall, dass ich die Chance bekommen habe. Jede Organisation, gerade ein Ministerium und die Diplomatie, lebt vom Engagement der Jungen und von neuen Ideen, von der Dynamik eines Teams. Das war früher nicht anders als heute. Damals waren die Zeiten hierarchischer, aber gute Chefinnen und Chefs sehen, dass man Junge fördern muss. Das ist mir bis heute ein Vorbild geblieben.

Thomas Oberreiter gilt als ausgewiesener EU-Experte. Zum Berufsbild des Diplomaten gehört Flexibilität – denn oft sind rasche Wohnortwechsel notwendig. Fotos: Franziska Liehl

Sie waren dienstlich viel in Brüssel und gelten als ausgewiesener EU-Experte. Inwiefern hat diese frühe berufliche Erfahrung bei den EU-Beitrittsverhandlungen Ihre Haltung zur EU geprägt?

Es verwundert mich manchmal heute noch, wie sehr sie mich geprägt hat. In gewisser Regelmäßigkeit kommt in der öffentlichen Debatte „Brüssel“ oder „die EU“ vor, damit ist fast immer etwas Österreich Entgegengesetztes gemeint. Das tut mir nach wie vor weh. Denn für mich ist die EU nie etwas Fremdes, sondern etwas, das man mitgestaltet und mitverantwortet.

Beobachten Sie einen Wandel in der Einstellung der österreichischen Bevölkerung zur EU?

Nach Abschluss der Beitrittsverhandlungen 1994 wurde ich nach Mexiko versetzt und habe auf der anderen Seite des Atlantiks gespannt auf das Ergebnis der Volksabstimmung gewartet. Die Zweidrittelmehrheit für den EU-Beitritt hat mich sehr gefreut. Sieht man sich die Umfragen der vergangenen 25 Jahre an, gibt es nach wie vor eine kleine EU-ablehnende oder -kritische Minder-heit – und eine sehr solide Mehrheit, die weiß, was sie an der Europäischen Union hat. Nur hört man von dieser wenig.

Größere Sorgen hat mir gemacht, dass die EU mit der Zeit als Selbstläufer betrachtet wurde, dessen Vorteile man gerne annimmt, aber nicht wirklich schätzt. Die Krisen der letzten Jahre haben das vorerst erledigt: Wie wertvoll offene Grenzen sind, hat uns schon Corona gezeigt. Wie wertvoll das Friedensprojekt Europa ist – und wie wenig selbstverständlich –, hat uns der russische Angriff auf die Ukraine deutlich vor Augen geführt. Und vergessen wir nicht: Die ukrainische Stadt Uschgorod liegt näher an Wien als Bregenz, der Krieg ist in unsere Nachbarschaft zurückgekehrt. Inzwischen ist also eindrucksvoll bewiesen, warum wir die EU brauchen. Egal wie groß ein Land ist, keines stemmt die Herausforderungen der heutigen Zeit allein.

Hat sich aus Ihrer Sicht die Kommunikation über die Vorteile der EU verbessert, oder braucht es noch mehr Maßnahmen?

Es gibt das Projekt der Europa-Gemeinderätinnen und Europa-Gemeinderäte in allen Bundesländern, von großen Städten bis zu kleinen Gemeinden, wo Personen dafür zuständig sind, Europa zu erklären. Das Projekt wurde im Außenministerium entwickelt und ist heute im Bundeskanzleramt angesiedelt. Dass wir direkt bei den Menschen sind, ist ein österreichisches Spezifikum. Es gibt also keine Notwendigkeit, jemandem auf den Leim zu gehen, der einen „Sündenbock Brüssel“ konstruieren will. Ein kurzes Gespräch oder zwei Klicks auf einer vernünftigen Website machen dagegen immun.

Eine große Herausforderung ist der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Die EU zeigt sich solidarisch mit der Ukraine, seit Ende Juni ist das Land EU-Beitrittskandidat. Was ist der Standpunkt Österreichs dazu?

Wir unterstützen den Beschluss, der Ukraine den Kandidatenstatus zu geben. Wir begrüßen auch das klare europäische Bekenntnis der Ukraine, und solange es notwendig ist, werden wir das Land solidarisch unterstützen. Auf der anderen Seite muss klar sein, dass die Verleihung des Kandidatenstatus der erste Schritt auf einem sehr langen Weg ist. Wie man EU-Mitglied wird, ist im EU-Vertrag festgelegt. Es gibt genaue Regeln und Bedingungen, aber keine Abkürzungen.

„Wie wertvoll das Friedensprojekt Europa ist – und wie wenig selbst-verständlich –, hat uns der russische Angriff auf die Ukraine deutlich vor Augen geführt.“

Österreich ist ein starker Unterstützer der EU-Erweiterung auf dem Westbalkan. Was würde ein beschleunigter EU-Beitritt der Ukraine für die Westbalkan-Staaten bedeuten?

Die Unterstützung der Ukraine darf nicht dazu führen, dass es Beitrittskandidaten erster und zweiter Klasse gibt. Manche Staaten auf dem Westbalkan warten seit 15 Jahren auf den Kandidatenstatus, und das ist aus Sicht Österreichs kein tragbarer Zustand. Die Integration aller Westbalkan-Staaten bleibt eine außenpolitische Priorität Österreichs, gerade auch von Außenminister Alexander Schallenberg.

Die Staaten sind wirtschaftlich, kulturell, historisch und menschlich eng mit uns verbunden. Eine gute halbe Million Menschen, die in Österreich leben, haben ihre Wurzeln auf dem Westbalkan. Es ist im Interesse Österreichs und ein wesentlicher Faktor für die Stabilität und wirtschaftliche Entwicklung der gesamten Region, dass die Europa-Perspektive der Westbalkan-Staaten glaubhaft und greifbar bleibt. Daran arbeiten wir in der Sektion III.

Sie repräsentierten Österreich als Stellvertretender Ständiger Vertreter bei der EU, das Gremium befasst sich mit Vorschlägen aus den Bereichen Umwelt, Landwirtschaft und Energie. All diese Themen haben an Bedeutung gewonnen. Was sind die dringendsten Handlungsfelder?

Während der österreichischen EU-Ratspräsidentschaft 2018 habe ich als Vertreter der EU-Mitgliedstaaten an dutzenden Verhandlungstreffen mit dem Europäischen Parlament teilgenommen. Schon damals waren die wichtigsten Themen Energie und Klima sowie die Frage, wie Energiepolitik mit einer modernen Klimapolitik zusammenpasst. Genau diese Themen beschäftigen uns jetzt in einer viel größeren Schärfe: Wie stellen wir die Gas- und Ölversorgung sicher, und wie passt das mit unseren Klimazielen und der angestrebten CO2-Reduktion zusammen? Das ist eine Herausforderung, vor der die ganze EU steht.

In diesem Zusammenhang ist uns auch die traditionelle österreichische Anti-Atomkraft-Politik wichtig. Wir sind strikt dagegen, dass die Nuklearenergie eine Renaissance erlebt, aber in Teilen Europas gibt es solche Bestrebungen. Da muss man dagegenhalten und immer wieder neue Verbündete suchen.

Nachhaltigkeit, Konnektivität und Innovation sind Teil der Arbeit der Sektion III. Wie werden Österreich und Europa nachhaltiger, digitaler und moderner?

Ich habe bereits unsere diplomatische Präsenz im Silicon Valley, „Open Austria“, erwähnt. Im Bereich der Tech Diplomacy sehe ich eine der größten Herausforderungen, aber auch Chancen für das Außenministerium.

Generell wollen wir hinsichtlich Innovation und Wirtschaft ein noch stärkerer Partner für österreichische Unternehmen werden. Das vor einem Jahr gestartete Programm „ReFocus Austria“ unterstützt mit unserem welt-weiten Netz von Vertretungsbehörden gezielt die österreichische Wirtschaft. Ursprünglich, und wiederum gemeinsam mit der Wirtschaftskammer, war das Programm nur für ein Jahr geplant, doch dieser globale Outreach hat sich so sehr bewährt, dass wir nun eine Neuauflage starten.

3 Fragen, 3 Antworten

Welches Buch haben Sie zuletzt gelesen?
Passend zur eben beginnenden tschechischen EU-Ratspräsidentschaft: Die Václav-Havel-Biografie von Michael Žantovský, einem tschechischen Berufskollegen. Ich bin ein Vielleser mit einer großen Bibliothek, und das rächt sich immer, wenn eine Übersiedlung ansteht, denn nichts ist so schwer wie Papier.

Bei welcher Musik können Sie sich entspannen?
Ich oszilliere zwischen zwei einander ziemlich fremden Welten: Bach und Blues. Alles, was mit B beginnt.

Haben Sie ein berufliches Erfolgsrezept?
Nicht eines – es gibt viele. Jeder muss das für sich passende und richtige finden.

Bürgernah.

Derzeit sind über 1.500 Europa-Gemeinderätinnen und Europa- Gemeinderäte in allen Bundesländern aktiv und bringen Europa-Themen zu den Menschen. Das Modell wird künftig auch in anderen EU-Ländern umgesetzt.

www.bmeia.at