Als Spitzenführungskraft ist es wichtig, allen die für sie relevanten Informationen zukommen zu lassen, so beschreibt Eva Wildfellner einen wichtigen Teil ihrer Arbeit als Kabinettsdirektorin in der Präsidentschaftskanzlei. Im Sinne einer modernen, krisenfesten Verwaltung wünscht sie sich auch eine höhere Transparenz bei Postenbesetzungen und mehr Frauen in leitenden Positionen.

Interview: Cornelia Ritzer
Fotos: Franziska Liehl

 

Seit Jahresanfang sind Sie Kabinettsdirektorin. Wie unterscheidet sich die Arbeit in Ministerien von jener in der Präsidentschaftskanzlei? Gibt es vielleicht etwas, das Sie dazulernen mussten – Stichwort:  Zeremoniell?

Wie bei jeder neuen Aufgabe muss man sich erst in die jeweiligen Abläufe einleben und einarbeiten. Das Ansehen und die bestmögliche Vertretung Österreichs in der Welt steht in unserem primären Fokus. In
der Präsidentschaftskanzlei muss man auf gewisse Abläufe und Prozesse achtgeben, die in meinen früheren Funktionen im Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport in der Form vielleicht nicht oft gebraucht wurden.

Für mich ist die Arbeit trotzdem dieselbe. Es geht um bürgernahe, moderne Verwaltung und Serviceorientierung nach innen und nach außen, sowie die Unterstützung des Bundespräsidenten. Das ist meine Aufgabe als Kabinettsdirektoren und das steht für mich im Vordergrund. Aber natürlich sind Staatsbesuche etwas, das in einem Ministerium in dieser Form nicht vorkommt. Der Bundespräsident steht im Protokoll der Republik an erster Stelle.

Als Kabinettsdirektorin sind Sie ihm unmittelbar unterstellt. Hat das Auswirkungen auf Ihre tägliche Arbeit?

Auch als Generalsekretärin im BMKÖS war ich dem Bundesminister direkt unterstellt. In dieser Funktion war ich  unter anderem für die Gesamtabstimmung und Koordination der unterschiedlichen Sektionen zuständig. Die unmittelbare Unterstützung und Beratung der politischen Spitze bei der Umsetzung ihrer Vorhaben ist mir daher bereits vertraut. Es ist eine Schnittstellenfunktion – auch in die Organisation
hinein, zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Die Aufgaben in der Präsidentschaftskanzlei
sind vielfältig. Der Bundespräsident ist oberster Repräsentant und „Hüter“ unserer Republik. Deshalb
sind wir auch mit Fragen aus den unterschiedlichsten Rechts- und Themengebieten konfrontiert.

Im Büro von Eva Wildfellner ist das Bild mit der Aufschrift „Democracy“ (Demokratie, Anm.) ein absoluter Blickfang. Das Vertrauen der Menschen in die Demokratie zu fördern, sieht sie als eine zentrale Aufgabe der Verwaltung.

Sie werden als „erfahrene Verhandlerin von schwierigen Materien mit einer exzellenten Fähigkeit zur Zusammenarbeit“ beschrieben. Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat als Arbeitsschwerpunkte seiner zweiten Amtszeit die Themen Klimakrise und Stärkung des Vertrauens in die Demokratie genannt. Was können Sie, in Ihrer Schlüsselfunktion, bei diesen Materien bewegen?

Ich sehe es als meine Aufgabe beziehungsweise als Aufgabe der Verwaltung, die politischen  Verantwortungsträgerinnen und Verantwortungsträger bestmöglich zu unterstützen und  Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Dabei ist mir die Einbindung von Expertinnen und Experten wichtig. Wir sollten uns auch die Zeit nehmen, deren Vorschläge breit zu diskutieren und mit den Verantwortungsträgerinnen und -trägern in der Politik rückzukoppeln.

Die Verwaltung kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, einerseits mit ihrer Expertise, andererseits als „Brücke“ zu  Stakeholdern, Expertinnen und Experten und der Zivilgesellschaft. Hier kann ich mich einbringen und das sehe ich auch als eine meiner Aufgaben. Und die Vorbildfunktion, etwas nicht nur zu sagen, sondern auch umzusetzen und mit gutem Beispiel voranzugehen. Nehmen wir den Bereich Klimaschutz: Der Bundespräsident nutzt auf seinen Reisen problemlos öffentliche Verkehrsmittel, wann immer es geht.

Als Beamtin haben Sie sich in den Büros mehrerer Ministerinnen und Minister parteiübergreifend einen ausgezeichneten Ruf erarbeitet. Welche Kompetenzen sind in der Verwaltung von Bedeutung? Und was raten Sie jenen, die eine Karriere im öffentlichen Dienst anstreben?

Für mich ist die Loyalität dem Amt, dem Staat und seinen Aufgaben gegenüber maßgeblich. Ebenso Lösungskompetenz und Serviceorientierung. So habe ich meine Tätigkeit in den vergangenen Jahren angelegt und versucht, möglichst sachorientiert vorzugehen. Verwaltung soll ja kein Selbstzweck sein,
unser Anspruch ist, für die Menschen in Österreich da zu sein.

Das bedeutet aber auch Investition in die Verwaltung selbst: vor dem Hintergrund des demografischen Wandels, der Digitalisierung, einer sich verändernden Arbeitswelt die Dienststellen dabei zu unterstützen, erforderliche Veränderungsprozesse einzuleiten. Eine flexible, effiziente und digitale Verwaltung ist eine zentrale Voraussetzung für die Bewältigung der Herausforderungen der kommenden Jahre.

„Es geht um bürgernahe, moderne Verwaltung und Serviceorientierung nach innen und nach außen, sowie die Unterstützung
des Bundespräsidenten.“

Eva Wildfellner, Kabinettsdirektorin

Haben Sie das Gefühl, dieses Bild von der serviceorientierten Verwaltung kommt in der Öffentlichkeit auch so an? Oder überwiegt doch das einer parteipolitisch geprägten Beamtenschaft, etwa wenn es wieder Schlagzeilen über politisch motivierte Postenbesetzungen gibt? 

Ich hoffe, dass dieses Bild auch ankommt. Gerade die Pandemie und die Krise der letzten Jahre haben gezeigt, dass unsere Verwaltung gut funktioniert und dass wir in weiten Teilen sehr krisenfest sind. Nehmen Sie zum Beispiel Services wie die Finanzverwaltung. Die waren durchgehend aufrecht, weil wir bereits viel digitalisiert haben. Das ist etwas, worauf sich die Bürgerinnen und Bürger verlassen können. Es ist notwendig, diese Services weiter auszubauen.

Wie erleben Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen im öffentlichen Dienst solche Diskussionen, dass Posten nicht nach Qualifikation besetzt werden, und wie reagiert man darauf?

Natürlich macht einen das betroffen, der Eindruck, das wäre gängige Praxis, ist aber falsch. Es geht doch darum, dass die jeweils bestqualifizierte Person den Job bekommt. Gerade im BMKÖS unter Vizekanzler
und Bundesminister Werner Kogler wurden zuletzt auch gesetzliche Änderungen im Ausschreibungsgesetz vorgenommen und einiges getan. Und es ist notwendig, diesen Weg weiterzugehen.

Es geht um transparente und nachvollziehbare Prozesse: öffentliche Ausschreibungen, Hearings und unabhängige Auswahlkommissionen, sodass eine allfällige Einflussnahme weitestgehend ausgeschlossen werden kann. Beispielsweise indem man die Vorsitzende oder den Vorsitzenden der Kommission extern besetzt oder man abgeht von „Ad-hoc“ Kommissionen. Dies gilt umso mehr bei der Besetzung von Spitzenpositionen.

Sie sind die zweite Frau, die die Präsidentschaftskanzlei leitet. Seit Sie 2007 in den Bundesdienst eintraten, gab es mit Brigitte Bierlein auch eine Bundeskanzlerin einer Expertenregierung. Wen haben Sie als  Wegbereiter oder Wegbereiterin für andere Frauen in Spitzenpositionen erlebt?

In meiner Karriere hatte ich das Glück, dass ich mit vielen Männern wie auch Frauen zusammengearbeitet habe, die Frauen in ihrer beruflichen Laufbahn gefördert haben. Ich wurde Kabinettschefin der damaligen Frauen- und Gesundheitsministerin Sabine Oberhauser. Für mich persönlich war sie eine Wegbereiterin. Sie war eine unerschrockene Frau und Politikerin, hat sich kein Blatt vor den Mund genommen, das hat mich beeindruckt.

Oder Klimaschutzministerin Leonore Gewessler: In den Unternehmen, an denen das Klimaschutzministerium beteiligt ist, ist der Frauenanteil seit Amtsantritt von Ministerin Gewessler
bereits von 37 auf rund 50 Prozent gestiegen. Sie zeigt vor, dass es geht und dass es viele kompetente und hoch qualifizierte Frauen gibt.

„Heute ist Flexibilität gewünscht. Doch auch der öffentliche Dienst ist um einiges flexibler geworden seit der Zeit, als ich begonnen habe.“

Eva Wildfellner, Kabinettsdirektorin

Soll dieser Wandel Richtung mehr Frauen in Leitungsfunktionen überhaupt noch thematisiert werden – oder sollte er eigentlich bereits alltäglich sein?

Das muss weiterhin thematisiert und vorangetrieben werden. Denn wie man sieht, ist es notwendig und da ist noch Luft nach oben. Im Bundesdienst arbeiten derzeit knapp über 43 Prozent Frauen, in Spitzenfunktionen – ich rede von Sektionsleitungsposten – waren es laut Bericht über das Personal des Bundes 2022 (die Zahlen beziehen sich auf Stand Dezember 2021, Anm.) knapp 33 Prozent. Da besteht auf jeden Fall noch Aufholbedarf.

Es gibt bereits zahlreiche Maßnahmen zur Förderung der Gleichstellung im öffentlichen Dienst. Zum
Beispiel das gesetzlich verpflichtende Frauenförderungsgebot, die Offenlegung von Ausschreibungen oder die Erstellung von Einkommensberichten. Im öffentlichen Dienst ist der GenderPay Gap wegen der gleichen Bezahlung für gleiche Arbeit mit knapp über acht Prozent besser im Vergleich zur Privatwirtschaft. Doch wir dürfen nicht lockerlassen.

Die Notwendigkeit, ein attraktiver Arbeitgeber für junge Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu sein, gilt als eine große Herausforderung für viele Branchen, aber auch für den öffentlichen Sektor. Was hat Sie dazu motiviert, nach dem Jusstudium in einem Ministerium zu arbeiten?

Für mich ist die Arbeit im öffentlichen Dienst eine extrem schöne Aufgabe. Es ist ein Job, wo man mitgestalten kann und serviceorientiertes Arbeiten für die Menschen gefragt ist. Es geht um Fragen, die das Wohl der Bevölkerung, das Zusammenleben in unserer Gesellschaft betreffen, das gemeinsame Bewältigen von Herausforderungen, und darum, Antworten anzubieten. Ich empfinde das als sehr sinnstiftend. Das war auch mein Antrieb, nach dem Studium in den Bundesdienst zu gehen. Und ich habe das nie bereut. Die Möglichkeit der Mitgestaltung gibt es überall – egal, in welchem Ministerium. Dazu kann ich nur jede und jeden ermutigen.

Und wie kann man junge Menschen dazu motivieren, im Staatsdienst zu arbeiten?

Früher war die Jobsicherheit eine Motivation. Ich erlebe bei jungen Menschen jedoch, dass das mittlerweile keine große Rolle mehr spielt. Heute ist Flexibilität gewünscht. Doch auch der öffentliche Dienst ist um einiges flexibler geworden seit der Zeit, als ich begonnen habe. Ein Beispiel ist die Möglichkeit, vermehrt im Homeoffice zu arbeiten, oder der problemlose und individuelle Anspruch auf Karenz für beide Elternteile. Ich glaube, dass die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für viele junge Menschen ein Thema ist. Und diese ist im öffentlichen Dienst für Frauen und Männer gleichermaßen möglich. Auch die Flexibilität innerhalb des Bundesdienstes ist vermehrt gegeben und wird zunehmend wahrgenommen. Man hat so die Möglichkeit, auch andere Tätigkeitsfelder in unterschiedlichen Ministerien kennenzulernen und in andere Bereiche zu wechseln.

Einblicke in die Hofburg.

Wie sieht der Arbeitsalltag des Bundespräsidenten aus? Und was zählt zu seinen Aufgaben? Antworten darauf und Infos zur Arbeit der Präsidentschaftskanzlei finden sich auf der Website des Staatsoberhaupts.

www.bundespraesident.at
Die medizinische Versorgung in Österreich hat einen guten Ruf. Doch Spitäler, Ambulanzen und Arztpraxen haben mit Unterfinanzierung und Personalmangel zu kämpfen. Die Pandemie machte diese Leerstellen im System noch sichtbarer. Doch woran krankt das heimische Gesundheitswesen? Ein Überblick.

Text: Cornelia Ritzer
Illustrationen: Lena Jansa

 

Vertreterinnen und Vertreter von Bund, Ländern und Gemeinden treffen sich, um übers Geld zu sprechen: Das ist der Finanzausgleich. Die Wünsche, was mit den aktuell rund 90 Milliarden Euro Steuergeld finanziert werden soll und muss, sind immer vielfältig – und werden nach der Pandemie und angesichts der hohen Inflation und Teuerung sowie notwendiger Anpassungen an den Klimawandel noch dringlicher formuliert. Im Fokus der Verhandlungen, die kurz vor Weihnachten 2022 gestartet sind und bis kommenden Herbst dauern werden, stehen die Themen Gesundheit und Pflege. Darüber, wie diese für die Menschen so wichtigen Bereiche nachhaltig finanziert werden können, zerbrechen sich Politik sowie Expertinnen und Experten den Kopf.

Klar ist: Das österreichische Gesundheitssystem gilt als eines der besten in Europa. Die Menschen können mit Problemen zur Hausärztin und zum Hausarzt gehen, diese überweisen bei Bedarf an Spezialisten. Und die Krankenhäuser bieten eine breite Palette von Leistungen und moderne Technologien. Aktuell zeigt sich jedoch deutlich, dass das Gesundheitssystem unter Druck ist, nicht wenige sprechen von einer Krise.

Hilferufe aus den Spitälern

Die Lage ist alarmierend: Im April 2023 wurde öffentlich, dass knapp zehn Prozent der Betten in Oberösterreichs Krankenhäusern gesperrt sind – wegen Personalmangel. Das sind in absoluten Zahlen 720 Spitalsbetten, die nicht für Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehen, weil nicht genug Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräfte im Dienst sind. Der Österreichische Gesundheits- und Krankenpflegeverband  (ÖGKV) hatte kurz zuvor Alarm geschlagen und gewarnt: „Das Gesundheitssystem bricht zusammen.“ Anlass für diese drastische Formulierung war, dass zwei Patienten zu lange auf die Versorgung in einer  Notfallambulanz hatten warten müssen und verstorben waren – vom Personal vorerst „unbemerkt“, wie es hieß.

Das Gesundheitssystem steht unter Druck. Wie es verbessert und dauerhaft finanziert werden kann, ist derzeit Thema bei den Finanzausgleichsverhandlungen.

Doch nicht nur die Beschäftigten fehlen im Gesundheitssystem, auch wichtige Medikamente sind in jüngster Zeit wegen Produktionsproblemen, fehlender Rohstoffe oder Exportbeschränkungen häufig knapp geworden. Laut einer Marketagent-Umfrage Ende Jänner 2023 hat mindestens jede sechste Person in Österreich selbst oder im Umfeld die Erfahrung gemacht, dass ein Medikament nicht erhältlich war. Dass Antibiotika, Schmerzmittel, Krebsmedikamente und Co. knapp sind, beschäftigt laut Umfrage vor allem die weibliche Bevölkerung: Vier von zehn Frauen machen sich sehr oder eher große Sorgen deswegen.

Wie verlässlich ist also die medizinische Versorgung in Österreich? Das fragen sich viele. Der im September 2022 präsentierte Austrian Health Report des Instituts für empirische Sozialforschung (IFES) untermauert das mit Zahlen. Demnach sind 56 Prozent der Bevölkerung „zufrieden mit dem Gesundheitssystem“. Das ist zwar die Mehrheit der Österreicherinnen und Österreicher (befragt wurden im Auftrag des Pharmaunternehmens Sandoz 800 in Österreich lebende Personen ab 18 Jahren, telefonisch und online),  das Ergebnis sei aber überraschend, sagt IFES-Geschäftsführer Reinhard Raml. Aus Studien der  vergangenen Jahre kenne man nämlich eine höhere Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem, so der Sozialforscher: „In Österreich haben wir eine gute Versorgung, und wir sind es gewohnt, dass diese auch für alle funktioniert.“

„Aus Studien der vergangenen Jahre kennen wir eine höhere Zufriedenheit mit dem Gesundheitssystem.“

Reinhard Raml, IFES-Geschäftsführer

Doch nun seien „etliche Fragezeichen aufgetaucht“, etwa die Verschiebung von OP-Terminen, der sichtbar gewordene Personalmangel oder die Schwierigkeit, eine Ärztin oder einen Arzt zu finden, die oder der noch neue Patientinnen und Patienten aufnimmt. Das beschäftige die Menschen, meint Raml. Auch die Engpässe bei der Verfügbarkeit mancher Medikamente seien ein Grund, warum die bisher immer große Zufriedenheit der Österreicherinnen und Österreicher mit dem Gesundheitssystem stark leidet. „Diese hohe Dynamik beobachten wir seit etwa drei Jahren“, erklärt der IFES-Geschäftsführer. Ob und wann „Ruhe einkehrt“, werde man weiter beobachten.

Verschiedene Zuständigkeiten

„Wir haben tatsächlich ein sehr gutes Gesundheitssystem“, sagt die Ökonomin Maria M. Hofmarcher-Holzhacker. „Denn die Wahrscheinlichkeit, dass in Österreich schwere Erkrankungen dank des Gesundheitssystems überlebt werden, ist sehr hoch.“ Probleme würden sich bei chronischen Krankheiten oder beim Bedarf an langfristiger Betreuung ergeben: „Diese Versorgung kann nicht in dem Umfang geleistet werden, wie es oft notwendig und am kostengünstigsten wäre.“ Problematisch sei vor allem die Finanzierung des Systems, so Hofmarcher-Holzhacker.

Die Expertin für Gesundheitspolitik und Gesundheitssysteme spricht damit eine Struktur an, die von  geteilten Zuständigkeiten geprägt ist. So ist der Bund für die Gesundheitspolitik insgesamt und für das Grundsatzgesetz für die Spitäler zuständig, wesentliche Bereiche der Gesundheitsversorgung liegen in
der Kompetenz der Länder. Sie vollziehen die Ausführungsgesetze für Spitäler und sind für die Pflege verantwortlich, und die Sozialversicherung nimmt die Bereitstellung von Vertragsleistungen im
niedergelassenen Bereich, von Medikamenten und Heilbehelfen sowie von Rehabilitation wahr.

Dieses Zusammenspiel von Bund, Ländern – die Hofmarcher-Holzhacker als „sehr starke und autonome Player“ beschreibt – sowie der für die Kassenmedizin zuständigen Sozialversicherung verläuft naturgemäß nicht reibungslos. Hofmarcher-Holzhacker: „Seit Jahrzehnten haben wir das Problem, dass die Akteurinnen und Akteure in ihren Silos der Zuständigkeit agieren.“ Eine Folge davon sei, „dass viele Patientinnen und Patienten im Dschungel der Zuständigkeiten herumirren und oft keine adäquate Versorgung finden oder einen Behandlungstermin bekommen“. Und: Trotz zahlreicher Reformen und Bemühungen in den letzten 20 Jahren werde „dieses strukturelle Problem seit Jahren nicht gelöst“.

Ineffizienzen als Problem

Das sei vor allem deshalb schade, sagt die Expertin, weil Österreich auch im internationalen Vergleich sehr viel Geld für Gesundheit ausgibt. Laut Statistik Austria (Stand: 2021) fließen jährlich 38,48 Milliarden Euro in Österreichs öffentliches Gesundheitssystem. Pro Kopf belaufen sich die Gesundheitsausgaben auf 4.100 Euro, damit liegen wir EU-weit an dritter Stelle. Die durchschnittlichen Ausgaben in Europa betragen 3.200 Euro. „Das ist auch in Ordnung so, denn Österreich ist ein reiches Land. Aber wir erzielen nicht die Ergebnisse, die man sich bei diesen hohen Ausgaben erwarten würde“, sagt Maria M. Hofmarcher-Holzhacker. Es bestünden „verschiedene strukturelle Probleme“ im Gesundheitssystem, etwa bei der Diabetesversorgung.

„Seit Jahrzehnten haben wir das Problem, dass die Akteurinnen und Akteure in ihren Silos der Zuständigkeit agieren.“

Maria M. Hofmarcher-Holzhacker, Ökonomin

Wie sehen diese Ineffizienzen konkret aus? 2013 wurden im Rahmen der partnerschaftlichen Zielsteuerung  nach der die Gelder aus Bund, Ländern und Sozialversicherung zur gemeinsamen Steuerung des niedergelassenen und des Spitalsbereichs virtuell zusammenfließen – Indikatoren entwickelt, anhand derer überprüft werden soll, ob bestimmte Versorgungs- und Qualitätsziele erreicht werden. Bund, Länder und Sozialversicherungsträger arbeiten also nicht nur bei der Finanzierung zusammen, sondern sollten sich auch bei der Umsetzung gegenseitig unterstützen. Dazu gehört der Ausbau des niedergelassenen Bereichs, der günstiger als Spitäler arbeitet und die erste Anlaufstelle für Patientinnen und Patienten ist.

Das Monitoring der Zielsteuerung sei „ganz gut gelungen“, so Hofmarcher-Holzhacker. Seit 2013 gilt aber auch ein Kostendämpfungspfad, der die Ausgaben am angenommenen BIP-Wachstum orientiert und damit Mehrausgaben zur Finanzierung des Gesundheitssystems einschränkt. „Dieser Kostenpfad wurde 2017 noch einmal festgezurrt“, erklärt die Gesundheitsökonomin. Das Gesundheitssystem habe sich an den Pfad gehalten, jedoch mit der Folge, „dass ihm Mittel entzogen wurden und es eine Unterfinanzierung gibt, weil der Kostenpfad nicht berücksichtigt, was der Versorgungsbedarf ist und welche Mittel für den technischen Fortschritt notwendig sind, um eine hochqualitative Versorgung weiterhin allen zu bieten. Und das kritisiere ich sehr.“

Maria M. Hofmarcher-Holzhacker hat Grundlagen für diesen Kostenpfad entwickelt, erzählt sie: „Ich dachte, das ist eine gute Möglichkeit, dem Gesundheitswesen Mittel zuzuführen und trotzdem nachhaltig zu bleiben.“ Heute sieht sie ihn kritisch. Zwar könne man „nicht endlos Geld ausgeben für Gesundheit, aber dass man die Finanzierung dumpf an die Entwicklung der Wirtschaftsleistung bindet, war ein Fehler. Und den muss man korrigieren.“ Der Finanzausgleich sei nun ein „Fenster“ für die Gestaltung eines  „großzügiger ausgestatteten Kostenpfads“. Ein solcher sei nötig, um die künftigen Herausforderungen zu meistern – etwa eine immer älter werdende Gesellschaft, aber auch die durch Zuwanderung wachsende Bevölkerung.

Frauen als Stützen der Branche

Die Gesundheitsökonomin betont zudem den Wertschöpfungsbeitrag, den der Bereich Gesundheit für die Wirtschaft leisten könne, dieser werde jedoch „systematisch ignoriert oder unterschätzt“. Hofmarcher-Holzhacker: „Wir müssen erkennen, dass wir einen Bereich haben, der viel Geld kostet, aber strategisch bedeutsam ist, weil er Beschäftigung – vor allem von Frauen – sichert.“ Dazu brauche es aber auch Investitionen und gute Gehälter für Frauen, deren Anteil im Gesundheits- und Sozialwesen 64 Prozent beträgt: „In keinem anderen Bereich sind die patriarchalen Strukturen so spürbar. Ich bin dafür, dass die nichtmedizinischen Beschäftigten im Gesundheitswesen und vor allem in der Pflege so viel verdienen wie die Metaller.“ Letztere haben einen Frauenanteil von lediglich 13 Prozent. Würden beide Branchen die gleichen Erhöhungen nach den diesjährigen Kollektivvertragsverhandlungen erhalten, wäre das ein Gehaltsplus von rund 3.000 Euro pro Jahr für die Gesundheits- und Sozialberufe.

Und was hat die Coronavirus-Pandemie mit der derzeitigen Situation zu tun, mit den langen Wartezeiten, mit dem Personalmangel? Die aktuelle Krise wäre auch ohne Corona entstanden, denn sie habe schon früher begonnen, sagt Hofmarcher-Holzhacker: „Als die Pandemie kam, waren wir schon sehr müde im Gesundheitssystem. Und jetzt sind wir alle erschöpft.“ Was nun schlagend werde, sei der demografische Wandel: Viele der Beschäftigten gehen demnächst in Pension. Ebenso schwer wiegen – neben der Arbeitsverdichtung, die durch Spezialisierungen in der Medizin verstärkt wird – die Arbeitsbedingungen. Vor allem die 12-Stunden-Dienste kritisiert Hofmarcher-Holzhacker: „Diese Dienstzeiten sind für das nichtmedizinische Personal, das immerhin 80 Prozent der Beschäftigten im Gesundheitswesen ausmacht, unerträglich. Das kann man vielleicht zehn Jahre machen, dann brennt man aus.“ Die Expertin hofft, dass sich die Dienstpläne „schon aufgrund der demografischen Situation und der Attraktivierung des Berufs“ ändern.

Trotz allem ist Hofmarcher-Holzhacker überzeugt, dass die Qualität des Gesundheitssystems bei den Patientinnen und Patienten in Österreich ankommt und die Menschen zufrieden mit derBetreuungsqualität sind. Dass die Finanzierung auf bessere Beine gestellt wird, ist ihre große Hoffnung für die laufenden Finanzausgleichsverhandlungen. Ob und wie Verbesserungen gelingen, auch in der Pflege, wird man in wenigen Monaten sehen. Die Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte und das übrige Gesundheitspersonal in Österreichs 264 Spitälern, in den Ambulanzen sowie Ordinationen werden währenddessen weiterarbeiten. Trotz Erschöpfung.

Gesundheitsreform.

2013 einigten sich Bund, Länder und Sozialversicherungsträger auf ein partnerschaftliches Zielsteuerungssystem zur Planung, Organisation und Finanzierung der österreichischen Gesundheitsversorgung. So soll die nachhaltige Finanzierung und langfristige Stärkung des Gesundheitswesens sichergestellt werden. Im Fokus steht die bessere Abstimmung zwischen den Versorgungsbereichen.

Über die Gesundheitsreform
Sinkende Glaubwürdigkeit trifft wachsendes Ohnmachtsgefühl: Was ist los mit der Demokratie in Europa? Woran leidet sie, welche Innovationen braucht sie? Ein Gespräch zwischen Andreas Treichl, Präsident des Europäischen Forums Alpbach, und der Politikwissenschaftlerin Daniela Ingruber.

Interview: Clemens Stachel
Fotos: Marion Pertschy

 

Herr Präsident Treichl, was war das letzte Volksbegehren, das Sie unterschrieben haben?

Andreas Treichl: Ehrlich gestanden kann ich nicht sagen, ob ich jemals ein Volksbegehren unterzeichnet habe. Anfang der 1980er Jahre gab es eines gegen den Bau eines Konferenzzentrums in Wien. Ich fand das damals so absurd, dass ich für mich beschlossen habe: An so etwas möchte ich mich nicht beteiligen.

Und Sie, Frau Ingruber?

Daniela Ingruber: Das letzte, das ich unterschrieben habe, war das zum Klimaschutz vor drei Jahren. Ich  hatte allerdings nicht das Gefühl, dass ich damit etwas bewirke. Volksbegehren sind einfach ein veraltetes Instrument der Demokratie. Außerdem verzweifle ich regelmäßig daran, wie wenig die Menschen Bescheid wissen über die Inhalte von Volksbegehren. Man bekommt in der Regel keine verlässliche Information darüber, es sei denn, man recherchiert selbst.

„Reinforcing Democracy in Europe“ lautet ein Schwerpunkt des diesjährigen Europäischen Forums  Alpbach. Warum braucht die Demokratie in Europa einen Anschub?

Treichl: Wenn wir uns die jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa ansehen, bemerken wir in manchen dieser Länder einen besorgniserregenden Trend: Demokratische Politikerinnen und Politiker agieren, sobald sie an der Regierung sind, zunehmend autokratisch. Wir haben mit Ungarn und Polen
zwei Beispiele dafür in unmittelbarer Nachbarschaft. In beiden Ländern hat sich in den letzten Jahrzehnten ein stabiler Mittelstand entwickelt, was eigentlich eine der Grundlagen einer funktionierenden Demokratie wäre. Trotzdem driften diese Gesellschaften zumindest teilweise in Richtung Autokratie. Eine andere Entwicklung, die wir in ganz Europa beobachten: Regierungen, die den Wohlstand ihrer Länder gesichert oder sogar erhöht haben, wurden und werden brutal abgewählt zugunsten von populistischen Parteien. In Alpbach stellen wir uns die Frage: Was können wir, was kann die Zivilgesellschaft gegen eine drohende Entdemokratisierung in Europa tun? Welche Werkzeuge der Demokratie gehören erneuert? Können wir  neue erfinden?

Andreas Treichl, Aufsichtsratsvorsitzender der Erste Stiftung, ist seit 2020 Präsident des Europäischen Forums Alpbach. Das EFA findet heuer von 19. August bis 2. September statt und steht unter dem Jahresmotto „Bold Europe“ – also „mutiges Europa“.

Was sind die strukturellen Gründe dieser Demokratiekrise?

Ingruber: In Österreich müssen wir uns um die demokratischen Strukturen, denke ich, keine Sorgen machen. Viel eher um das verschobene Berufsbild des Politikers und der Politikerin. Man sollte sich wieder vergegenwärtigen: Es handelt sich hier um eine Dienstleistung an der Gesellschaft. Gerade in einer Zeit, in  der wir mit großen Krisen konfrontiert sind, bräuchten wir Politikerinnen und Politiker, die in größeren Zusammenhängen und über die Legislaturperiode hinaus denken können. Dieser Zugang zu Politik kann aber nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen ihn auch entsprechend honorieren. Populistische Parteien gründen ihren Erfolg ja auf einem Mangel an politischer Bildung und an kritischer Medienkompetenz in der Bevölkerung. Beide sollten längst Hauptfächer in den Schulen sein, gleichgestellt mit Deutsch oder Mathematik.

Das symbolträchtigste Instrument der modernen Demokratie, das Parlament, kommt ja aus einer Zeit vor E-Mails, Online-Votings und Zoom-Konferenzen. Könnte man die Volksvertretung heute nicht viel effizienter organisieren? 

Treichl: Lassen Sie mich eine Parallele zur Wirtschaft ziehen: Man braucht heute auch keine Börsen als physische Orte mehr, um Geschäfte zu machen. Ich kann mir also durchaus vorstellen, dass man irgendwann einmal auch das Parlament als Ort nicht mehr so benutzt wie heute. Vielleicht verlegt man
es ja bald zu 100 Prozent ins Homeoffice (lacht).

Ingruber: (lacht) Eine Schreckensvision! Ich sehe das Parlament selbst nicht aus der Zeit gefallen. Im Gegenteil, das Problem in Österreich ist  doch, dass der Parlamentarismus in den letzten Jahren massiv geschwächt worden ist. Das Parlament ist zu einem Ort geworden, an dem nur noch abgesegnet oder – von der Opposition – widersprochen wird, was die Regierung ihm vorlegt. Das Parlament muss viel
selbstbewusster werden, selbst initiativ  Gesetzesvorschläge einbringen, als eine echte Interessenvertretung der Gesellschaft agieren.

Daniela Ingruber ist Politikwissenschaftlerin an der Universität für Weiterbildung Krems. Von 2018 bis 2023 war sie Teil des dort verankerten Austrian Democracy Lab. Sie forscht vor allem zu den Themen Demokratie, Medien und Krieg.

Also ein Plädoyer gegen Parteien, wie wir sie zurzeit kennen?

Ingruber: Ja, die Parteien, so wie sie sich heute präsentieren, sind im Gegensatz zum Parlament definitiv veraltet.

Treichl: Wobei es in der Regel die Regierungsparteien sind, die sich das Parlament unterordnen. Und das wäre für mich schon der erste Schritt zur Autokratie. In unserem westlichen Nachbarland Schweiz haben wir derartige Phänomene gar nicht. Es gibt mehr Mitbestimmung der Bevölkerung, das Wohlstandsniveau ist höher – da kann man sich fragen, warum ist das so? Eine Antwort wäre: Außerhalb der Schweiz kennt niemand einen Schweizer Politiker. Das dortige System beschränkt etwaige Machtgelüste Einzelner. Politik als echter Dienst an der Bevölkerung wird viel ernster genommen.

Ingruber: Wir können uns auch an Norwegen ein Vorbild nehmen, einem Land, das im Demokratie-Index weltweit stets an erster Stelle steht. Politikerinnen und Politiker werden dort nicht als Elite  wahrgenommen, und die Parlamentsparteien sind es gewohnt zu kooperieren.

In der politischen Debatte in Österreich wurde in den letzten Jahren an Grundpfeilern der Demokratie gesägt: Die Menschenrechte oder das Asylrecht werden zur Verhandlungsmasse der Tagespolitik. Sind das Alarmsignale einer Entdemokratisierung? Oder muss eine gefestigte Demokratie derartige Diskussionen
„aushalten“?

Ingruber: Hans Kelsen hat gesagt: Die Demokratie ist das einzige Regierungssystem, das es aushalten muss, herabgewürdigt und bekämpft zu werden. Nicht nur das – sie muss Widerspruch sogar aktiv ermöglichen. Bei Grund-und Menschenrechten bin ich allerdings sehr empfindlich. Eine der wenigen Verfassungsänderungen, die ich anregen würde, wäre ein Grund- und Menschenrechtskatalog gleich nach dem Artikel 1 des Bundes-Verfassungsgesetzes.

Treichl: Ich denke, dass diese bewusste Zuspitzung der politischen Debatte eine Folge der sozialen Medien ist. Politikerinnen und Politiker sind heutzutage 24 Stunden am Tag exponiert. Sie orientieren sich zunehmend daran, was die Menschen hören wollen und womit sie in die Medien kommen, als an ihren echten Überzeugungen und daran, was das Richtige wäre.

Ingruber: Auch diese Frage führt uns also zum Spannungsfeld Medien/Politik zurück. Der Druck auf Politikerinnen und Politiker nimmt durch Social Media enorm zu, wie ich aus meinen  Forschungsinterviews weiß. Viele von ihnen erzählen mir, dass sie immer heftiger beschimpft werden – vor allem Frauen. Die ziehen sich dann oft wieder zurück. Wenn wir als Gesellschaft es nicht schaffen, diese Dynamik der Politikerbeschimpfungen einzudämmen, werden wir bald nur noch jene Leute in der Politik haben, die gar nichts zum Guten verändern wollen, sondern sich ausschließlich um die eigene Beliebtheit sorgen.

Treichl: Diese Entwicklung hat sich mittlerweile auf das „echte Leben“ ausgebreitet – bis hinunter auf die Gemeindeebene. Es gibt Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, die den gesellschaftlichen Druck nicht mehr aushalten wollen und daher zurücktreten.

Ingruber: Eine Demokratie ist immer nur so stark, wie die Bevölkerung es zulässt. Ich bemerke in meiner  Forschung die Tendenz, dass immer mehr Menschen sich wieder einen Diktator an der Spitze des Staates vorstellen könnten, „einen wie Putin“. Es ist völlig verrückt. Gleichzeitig sind diese Menschen aber
nicht verrückt oder dumm, sondern sie folgen einfach aufgeheizten Erzählungen. Diese Social-Media-Welt der Verschwörungstheorien und Fake News ist wirklich eine riesige Herausforderung für unsere Demokratie.

„Politische Bildung und kritische Medienkompetenz sollten längst Hauptfächer in den Schulen sein.“

Daniela Ingruber

Ist es nicht ein demokratiepolitisches Problem, dass in Österreich immer weniger Menschen wählen dürfen – bei wachsender Bevölkerung? Sollte man also das Wahlrecht auf hier lebende Menschen ohne Staatsbürgerschaft ausweiten? Oder den Zugang zur Staatsbürgerschaft erleichtern?

Ingruber: Beides wäre dringend notwendig, das ist überhaupt keine Frage.

Treichl: Die heutige Situation ist absurd, natürlich muss man sie ändern.

Ein weiterer Krisenaspekt der Demokratie ist ökonomischer Natur: Die Zahl der Menschen, die sich „abgehängt“ fühlen, steigt in den westlichen Ländern.

Treichl: Die Situation in den USA ist etwas drastischer als in Europa: Daher sind die Spaltungstendenzen der Gesellschaft noch etwas ausgeprägter als hier. Wir müssen achtgeben, dass wir diese Entwicklung einbremsen können. Dabei spielt auch das Auseinanderklaffen der Wohlstandsschere eine Rolle und wir müssen in Europa aufpassen, dass der breite Mittelstand nicht zum großen Verlierer der nächsten Jahrzehnte wird. Und das ist auch in demokratiepolitischer Hinsicht wichtig, weil ein breiter Mittelstand die beste Basis für eine Demokratie ist. Die Vermögensverteilung driftet rasant auseinander und damit auch die Gesellschaft. Es ist eine Entwicklung, die auch Europa betreffen wird, und die so schnell geht,
dass wir sie vielleicht gar nicht richtig wahrnehmen.

Ingruber: Die Menschen brauchen einen gewissen Wohlstand, um über Demokratie nachdenken und sie auch mit Leben erfüllen zu können. Es geht hier gar nicht um Reichtum, sondern um ein Gefühl der Fairness und um Instrumente der Transparenz: Wie viel verdienen einzelne Berufe, und warum?
Es gibt so viele Menschen, die viel zu wenig verdienen, gemessen an den Leistungen, die sie für die  Gesellschaft erbringen. Eine boomende Wirtschaft allein macht aber Demokratie nicht
besser. Das Wichtigste ist Bildung: es den Menschen zu ermöglichen, zu selbständigem Denken und zu gesellschaftlicher Teilhabe zu finden.

„Manche jungen Demokratien in Mittel- und Osteuropa driften in Richtung Autokratie.“

Andreas Treichl

Die Digitalisierung kam bis hierhin eher als Gefahr vor. Aber ist sie nicht auch eine große Chance für die Demokratie?

Ingruber: Sie ist zweifellos beides! Ich bin begeistert von neuen demokratischen Prozessen, die über  digitale Wege ermöglicht, beschleunigt oder verbreitet werden: Bürgerräte etwa sind ein tolles Beispiel für Partizipation abseits von Wahlen. In Österreich hatten wir letztes Jahr den „Klimarat“ aus 100 Bürgerinnen und Bürgern, der aus physischen Treffen und digitalen Elementen bestand. Derartige Zusammenkünfte von politisch engagierten Menschen wären sicher auch auf EU-Ebene möglich – da würde das natürlich  hauptsächlich über digitale Tools laufen.

Bürgerräte wären also ein alternatives Element zur parteienzentrierten Demokratie.

Ingruber: Genau. Große Teile der Bevölkerung wollen sich ja politisch engagieren, finden aber oft nicht die Foren, in denen sie sich einbringen könnten. Es fällt vielen jungen Menschen immer schwerer, sich mit einer der aktuellen Parteien zu identifizieren. Und wenn sie doch zu einer dazugehen, sind sie oft von deren starren internen Strukturen enttäuscht oder fühlen sich erst recht nicht gehört.

Treichl: Eine der großen Stärken des Forums Alpbach ist es, der nächsten Generation eine Plattform zu bieten, damit ihre Stimme gehört wird. Beim Austausch mit den Stipendiatinnen und Stipendiaten, die nach Alpbach kommen, merkt man sehr wohl, dass junge Menschen ein großes Interesse daran haben, Politik mitzugestalten. Für ein besonders zukunftsorientiertes Beispiel war etwa das Forum Alpbach die Initialzündung: „Love Politics“, eine Initiative, die mit der Apolitical Foundation verbunden ist. Das ist eine neue Organisation, die jungen Menschen in Kursen das politische Handwerkszeug mitgibt, um im 21. Jahrhundert gute Politik zu machen. Innerhalb kurzer Zeit hatte die Initiative bereits 900 Anmeldungen.
Junge Menschen sind an einer neuen, konstruktiven Art des Politikmachens interessiert. Demokratie darf nicht langweilig sein, sondern muss Freude machen, sonst hat sie keine Chance in der Zukunft.

Europäisches Forum Alpbach.

Seit 1945 treffen sich Entscheidungsträgerinnen und Ideengeber aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft einmal im Jahr in Alpbach. Das Tiroler Bergdorf hat deshalb den Beinamen „Dorf der Denker“ erhalten.

www.alpbach.org
Junge Menschen mit Interesse an der Natur können sich im Freiwilligen Umweltjahr nicht nur für den Umweltschutz einsetzen. Sie sammeln dabei auch wertvolle Erfahrungen für ihre Zukunft.

Text: Rainer Brunnauer-Lehner

 

Alltag, das hieß für Xaver Kopf und Benjamin Schedl noch vor einem Jahr, morgens pünktlich ab acht Uhr im Klassenraum zu sitzen, Vokabel auswendig zu lernen oder penibel Angaben von Übungsbeispielen zu studieren. Xaver (19) kommt eigentlich aus Salzburg, Benjamin (20) aus dem Burgenland. Mit der Matura haben die beiden erst vor wenigen Monaten die Routine der Schule hinter sich gelassen. Dass sie jetzt gemeinsam in Wien an  einem Schreibtisch sitzen und dabei mit den Gedanken trotzdem immer ein bisschen in der Natur sind, liegt daran, dass sie sich für ein Freiwilliges Umweltjahr entschieden haben.

Ernst des Lebens

Xaver und Benjamin waren heuer schon viel draußen unterwegs, haben mit Ferngläsern Vögel beobachtet, bestimmt und in Listen dokumentiert. Sie haben künstliche Storchen-Nester in Bäume hochgezogen, auf Veranstaltungen über die Vogelwelt erzählt und mitgeholfen, Daten eines Citizen-Science-Projekts auszuwerten. Die beiden leisten ihren Freiwilligendienst bei der Vogelschutzorganisation BirdLife Österreich: „Verglichen mit der Schulzeit hat mein Leben eine 180-Grad-Wende genommen“, sagt Xaver.

Insgesamt zehn Monate werden er und sein Kollege Benjamin für die NGO arbeiten. Dafür erhalten  sie neben unterschiedlichen Fortbildungen ein kleines Taschengeld und sind voll sozialversichert.
Außerdem ersparen sie sich durch das Freiwillige Umweltjahr den Präsenz- oder Zivildienst. Das Angebot erfreut sich wachsender Beliebtheit  unter jungen Österreicherinnen und Österreichern. Mittlerweile entscheiden sich jährlich fast 100 Jugendliche für den Freiwilligendienst.

Die Möglichkeiten sind vielfältig. Mehr als 70 Organisationen bieten in über 90 Einsatzstellen in ganz  Österreich Einsatzplätze an. Die Themengebiete reichen von allgemeinem Umweltschutz und Umweltbildung sowie Natur- und Artenschutz über ökologische Landwirtschaft und Tierschutz bis hin zu Entwicklungszusammenarbeit und erneuerbarer Energie.

An allen Fronten

Teil des Programms sind sechs Ausbildungsmodule, in denen unter anderem vermittelt wird, wie Umweltschutz in Österreich funktioniert, wie er organisiert und rechtlich geregelt ist: „Davor war mir nicht ganz klar, wo der Umweltschutz  überall eine Rolle spielt. Es gibt keinen Bereich, der die Umwelt nicht betrifft“, erzählt Xaver. Darüber hinaus bekommen die jungen Menschen Grundlagen der Mediengestaltung mit auf ihren Weg. Im Laufe des Engagements muss jede und jeder Teilnehmende eine Aktion in einem Medienprojekt dokumentieren oder ein bestimmtes Thema der jeweiligen Einsatzstelle präsentieren.

Das Freiwilligenjahr vermittelt Umweltschutz als gesellschaftlichen Auftrag und zeigt, unter welchen Rahmenbedingungen er funktioniert.
Fotos: BirdLife/Lisa Lugerbauer, JUMP

Wöchentlich sind 34 Arbeitsstunden vorgesehen. Abhängig davon, ob auch Verpflegung gestellt wird, beträgt das monatliche Taschengeld derzeit bis zu 345 Euro. Außerdem gibt es Bahnvergünstigungen,
und die Kosten für die Fahrt zur Dienststelle werden komplett ersetzt. Grundsätzlich können alle Menschen mit Hauptwohnsitz in Österreich zwischen 18 und 30 Jahren ein Freiwilliges Umweltjahr antreten, das zwischen sechs und zwölf Monaten dauert. Um als Ersatz für den Zivildienst anerkannt zu werden, müssen es aber mindestens zehn Monate sein.

„Die Anerkennung war für die Bedeutung des Programms ein wichtiger Meilenstein“, sagt Claudia Kinzl-Ogris, Gründerin der Jugend-Umwelt-Plattform (JUMP) und Programmleiterin des Freiwilligen Umweltjahres. Denn vier Fünftel der jungen Männer im  Freiwilligendienst lassen sich diesen als Zivildienstersatz anrechnen. Möglich ist das seit dem Jahr 2013.

Sicherheit für Freiwillige

Zwar existierte schon in den 1990er Jahren ein Vorgängerprojekt. „Allerdings gab es damals keinen rechtlichen Rahmen für den Einsatz der Freiwilligen. Das Engagement passierte in einem Graubereich zwischen Dienstverhältnis und reiner Freiwilligkeit“, erklärt die Programmleiterin.

2011 hatte die Europäische Union das „Jahr der Freiwilligkeit“ ausgerufen. Im selben Jahr gründete sich  JU MP. Bereits 2012 wurde in Österreich ein Freiwilligengesetz verabschiedet, das unter anderem das Freiwillige Umweltjahr genauer regelte und JUMP zu dessen Trägerorganisation ernannte. Finanziert
werden die Plattform und der Freiwilligendienst inzwischen von den neun Bundesländern gemeinsam mit dem Klimaschutzministerium. „Unser nächstes Ziel ist, dass das Freiwillige Umweltjahr auch beim Taschengeld dem Zivildienst angeglichen wird. Dann würden Teilnehmende ungefähr 500 Euro im Monat erhalten“, sagt Kinzl-Ogris. Dieses Ziel könnte bereits im September erreicht werden. Denn ein entsprechender Gesetzesentwurf liegt vor und soll noch vor der Sommerpause im Parlament beschlossen werden. Die Novelle des Freiwilligengesetzes sieht außerdem ein Klimaticket für jede freiwillige Person vor.

„Die Anerkennung als Zivildienst-Ersatz war für die Bedeutung des Programms ein wichtiger Meilenstein.“

Claudia Kinzl-Ogris, Programmleiterin JUMP

Etwa 40 Prozent der Freiwilligen sind junge Frauen, für die eine Anrechnung als Ersatzdienst keine Rolle spielt. Daher ist auch die Kenntnis weiterer Motivationsfaktoren für JUMP sehr wichtig. Diese erhebt die Plattform regelmäßig: „Einer der Hauptbeweggründe ist die Berufsorientierung und das Kennenlernen von Möglichkeiten“, sagt Claudia Kinzl-Ogris. Ein zusätzlicher Anreiz sei das Klimaticket, das die Freiwilligen zukünftig erhalten sollen.

Hobby, Beruf, Berufung

Auf der anderen Seite würden die teilnehmenden Organisationen und ihre Dienststellen erheblich von Freiwilligenarbeit profitieren: „Sie schätzen den frischen Wind und den Input der jungen Generation. Die Freiwilligen bringen oft schon handfeste Fähigkeiten aus ihrer Ausbildung auf dem Letztstand mit“, so
die Programmleiterin.

Ein gutes Beispiel dafür ist Benjamin. Er kann bereits auf Berufserfahrung im Umweltschutz zurückgreifen. Schon als Schüler hat er damit begonnen, freiberuflich für ein Technikerbüro das Vogelvorkommen an Standorten geplanter Windkraftwerke zu dokumentieren: „Ich könnte auch sagen, dass ich mein Hobby zum Beruf gemacht habe“, lacht er.

Dazu passt, dass die Kurseinheiten des Freiwilligen Umweltjahres nicht nur das Naturwissen vertiefen sollen. Sie tragen durch Berührungspunkte mit Expertinnen und Experten  zu einer Professionalisierung bei: „Eine meiner Leidenschaften ist das Fotografieren. Wenn man aber von jemandem etwas gezeigt bekommt, der damit sein Geld verdient, lernt man noch mal ganz anders“, sagt Xaver. Den Stellenwert des vermittelten Wissens soll neben einem Zertifikat, das den Teilnehmenden zum Abschluss verliehen wird, ein weiterer Aspekt unterstreichen: Wer später eine Ausbildung an der Hochschule für Agrar- und Umweltpädagogik absolviert, bekommt einen Teil der Studienleistung (im Ausmaß von 8 ECTS) angerechnet.

Fürs Leben lernen

Und nicht nur inhaltlich sind die Ausbildungsmodule im Freiwilligen Umweltjahr spannend: „Allein in unserer Gruppe der Ostregion sind 25 Leute im gleichen Alter, die sich alle irgendwie für die Natur interessieren. Da bildet sich schon so etwas wie eine Gemeinschaft“, sagt Benjamin. Es ist vermutlich kein Zufall, dass die beiden Freiwilligen von BirdLife für den nächsten Lebensabschnitt ähnliche Pläne haben: Beide wollen Biologie studieren.

Darauf, was sie später einmal beruflich machen werden, möchten sie sich noch nicht festlegen: „Aber ich glaube schon, dass ich immer etwas machen werde, das mit Umweltschutz zu tun hat“, sagt Benjamin. Er spricht damit etwas an, das für die Jugend-Umwelt-Plattform zentral ist: „Für die Umweltorganisationen ist der Impact durch das Freiwillige Umweltjahr unglaublich wertvoll. Die jungen Menschen kommen in einer Lebensphase grundlegender Veränderungen zu uns. Wenn wir sie mit den Erfahrungen, die sie hier machen, ein Stück weit mitprägen, hilft das dem Umweltschutz allgemein“, ist Claudia Kinzl-Ogris überzeugt.

Als prägend dürften Xaver und Benjamin ihre Erfahrungen jedenfalls in Erinnerung behalten: Beide sind von zu Hause ausgezogen und wohnen nun zumindest unter der Woche in Wien. Die Schulbank haben sie mit dem BirdLife-Büro und ihren Einsätzen in der freien Natur getauscht: „Alltag wird es immer geben“, sagt Xaver, „aber wenn der nur annähernd so aussieht wie im Freiwilligen Umweltjahr, kann man schon zufrieden sein.“

Mitmachen.

Für das Freiwillige Umweltjahr 2023/24 gibt es noch freie Plätze, für die man sich noch bis Oktober 2023 bewerben kann. Kontaktdaten und alle Infos dazu gibt es auf der Website der Jugend-Umwelt-Plattform.

www.jugendumwelt.at
In urbanen Lebensräumen werden schon heute immer mehr Daten miteinander vernetzt. Vieles wird für die Bewohnerinnen und Bewohner dadurch einfacher. Smart-City-Ansätze können bei der Lösung gegenwärtiger und zukünftiger Probleme helfen, doch sie bergen auch Risiken.

Text: Jana Maria Unterrainer

 

Mehr als die Hälfte der Österreicherinnen und Österreicher lebt heute in Städten und dieser Anteil wird künftig weiter steigen. Aber wie sieht die Stadt der Zukunft aus? Wie werden wir in ihr leben und arbeiten?

Nach Schätzungen der Weltbank werden 2050 weltweit sieben von zehn Menschen in Städten wohnen. Große Herausforderungen, wie etwa der Umgang mit dem Klimawandel, verlangen nach Lösungen. Fest steht, dass wir stärker von Technologien profitieren werden. Das sogenannte Internet of Things (IoT) wird immer wichtiger. Mehr und mehr Gegenstände, Wohnräume und öffentliche Orte werden mit dem Internet verbunden, und sie generieren und verarbeiten digitale Daten. In vielen Privathaushalten helfen Sensoren bei der Regulierung der Raumtemperatur oder verrichten Staubsaugerroboter ihren Dienst. Auch der öffentliche Raum wird zunehmend digital: An Bauwerken und Pflanzen angebrachte Sensoren liefern schon heute wertvolle Umweltdaten. Die Stadt der Zukunft wird eine Smart City sein.

In Städten und Gemeinden soll eine nachhaltige und vielfältige Fortbewegung ermöglicht werden. Damit auf Autos mit Verbrennungsmotor verzichtet werden kann.
Fotos: Wien 3420 aspern Development AG/Daniel Hawelka, Luiza Puiu

Doch was sind Smart Cities beziehungsweise Smart Regions? Auf diese Frage haben Fachleute unterschiedliche Antworten. Für die Datenexpertin Marlies Temper von der Fachhochschule St. Pölten sind Smart Cities „vernetzte Städte, die Daten sammeln und aus diesen Wissen extrahieren, um damit das Wohlbefinden der Bevölkerung zu steigern“. Durch digitale Lösungen sollen Städte und Regionen effizienter im Umgang mit Problemen werden. Anhand der Daten von sogenannten Umweltsensoren lässt sich zum Beispiel ermitteln, wo neue Parks oder Grünanlagen sinnvoll wären oder an welchen Orten ideale Bedingungen für Photovoltaikanlagen herrschen. Auch unsere Mobilität wird sich durch das IoT verändern. So kann mittels digitaler Live-Daten festgestellt werden, wie ausgelastet eine Straßenbahnlinie ist.

Informatiker Schahram Dustdar von der Technischen Universität Wien hält das Label Smart Cities für „sehr geduldig“, denn ganz unterschiedliche Projekte bekämen es zurzeit verliehen. Ein loser Bezug zum Thema genüge schon, um neue Initiativen in der Stadt entsprechend zu branden, beobachtet der Experte. Zugleich sieht er in dem Ansatz großes Potenzial. Mit der digitalen Datenvernetzung werde es möglich, „neuartige Dienste anzubieten, die es vorher nicht gab“. So können heute etwa medizinische Untersuchungsergebnisse dank Vernetzung ortsunabhängig von verschiedenen Gesundheitsdienstleistern abgerufen werden.

Im Bereich der öffentlichen Verwaltung gilt es laut Dustdar vor allem die starke Fragmentierung aufzulösen, um die Synergien der Smart-City-Konzepte zu nutzen. Er zieht dabei den Vergleich zum menschlichen Körper: „Wir haben eine bestimmte Wahrnehmung unseres eigenen Körpers. Aber in Wirklichkeit sind es Milliarden von Zellen und Bakterien, die in uns zusammenarbeiten müssen, ohne dass wir es bemerken.“ Für „smarte“ Projekte in der  Verwaltung brauche es daher einen ganzheitlichen Blick, um Potenziale zu erkennen.

Was nützt die Technik, die nicht verwendet wird?

Bei Smart Cities beziehungsweise Smart Regions gehe es darum, wie das „Leben des Einzelnen und der Communitys beziehungsweise einer ganzen Stadt vernetzter gestaltet“ werden könne, sagt Dustdar. Die „Smart Cities Initiative“, eine Kooperation des Klimaund Energiefonds sowie des Klimaschutzministeriums (BMK), hat Ziele für österreichische Projekte definiert. Konkret soll mittels Datenvernetzung die Lebensqualität der Menschen gesteigert und der Ressourcenverbrauch minimiert werden. Ein solches Smart-City-Konzept hat etwa die Stadt Wien.

Der Einstieg in das Thema beginne mit der Frage nach dem zugrundeliegenden Stadtbegriff, sagt Thomas Madreiter, Planungsdirektor der Stadt Wien im Geschäftsbereich Bauten und Technik. In seiner Zukunftsvision steht die Stadt als lebendiger Organismus im Zentrum. Madreiter und sein Team arbeiten deswegen an einem Stadtmodell, welches „das Soziale in den Mittelpunkt rückt“. Dazu wurden für Wien Ziele festgelegt, die sich an den Sustainable Development Goals (SDGs) der Vereinten Nationen orientieren. Das oberste Gebot ist, dass Wien bis 2040 klimaneutral sein soll. Auf der nächsten Ebene gilt es, die hohe Lebensqualität für alle Wienerinnen und Wiener zu erhalten und dabei soziale Aspekte zu bedenken. Drittens liege es den Planerinnen und Planern der Bundeshauptstadt am Herzen, Forschung und Innovation sowie Bildung als Basis für eine smarte Stadt voranzutreiben, betont der Planungsdirektor.

„Smart Cities sind vernetzte Städte, die Daten sammeln und aus diesen Wissen extrahieren, um das Wohlbefinden der Bevölkerung zu steigern.“

Marlies Temper, Datenexpertin FH St. Pölten

Die Seestadt Aspern wurde als Kooperationsprojekt der Stadt Wien und des Bundes ins Leben gerufen, um die Stadtentwicklung in der schnell wachsenden Metropole voranzutreiben. Sie war von Beginn an als Laboratorium angelegt, in dem die Smart City der Zukunft erprobt werden sollte. Bis heute ist eine eigene Forschungseinrichtung dort untergebracht, die sich mit Energienutzung befasst. Madreiter hält es für entscheidend, nicht bloß Neues zu implementieren, sondern auch zu untersuchen, wie Innovationen von der Bevölkerung angenommen werden. Wie gehen etwa die Bewohnerinnen und Bewohner der Seestadt Aspern mit den neuen Möglichkeiten um? Das Forschungsteam beobachtet dazu einzelne Wohnungen und das Verhalten der Menschen dort.

Als Beispiel nennt der Planungsdirektor der Stadt Wien die „Smart Meter“: Manche Menschen würden in den digitalen Zählgeräten zur Erfassung des Stromverbrauchs eine Bedrohung durch mehr Überwachung vermuten. Daher müsse man das Projekt gut erklären. Es gehe darum, „die technischen Möglichkeiten mit den sozialen Potenzialen und Optionen in Einklang zu bringen“, sagt Thomas Madreiter. Die Stadt Wien möchte dabei nicht mit erhobenem Zeigefinger auftreten, wie Madreiter am Beispiel des Individualverkehrs erklärt: „Es ist unser Job als öffentliche Verwaltung, den Menschen Strukturen anzubieten, die sie selbst merken lassen, dass sie kein Auto mehr besitzen müssen, wenn es klügere Alternativen gibt.“ Seiner Einschätzung nach wird das Privatauto in der Stadt schon bald der Vergangenheit angehören. Unerlässlich sei aber die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger, betont Madreiter. Die Stadt Wien hat daher mehrere Bürgerbeteiligungsprojekte ins Leben gerufen. Ein Beispiel sind die sogenannten Klimateams, die Ideen mit positiver Klimawirkung entwickeln. 2022 entstanden in diesem Rahmen 102 Projektskizzen, von denen 19 in den nächsten zwei Jahren umgesetzt werden sollen.

Internationale Vorbilder für die Städte der Zukunft

Smart Cities sind keine österreichische  Erfindung, entsprechende Konzepte werden auf der ganzen Welt erprobt. Planungsdirektor Thomas Madreiter verweist etwa auf das Stadtkonzept von Barcelona, das Digitalisierung als Beitrag zur Demokratisierung besonders berücksichtigt. Städte wie Amsterdam,
Hamburg oder Kopenhagen seien wiederum Vorbilder, wenn es um Mobilitätslösungen und den effizienten Umgang mit öffentlichen Räumen gehe, sagt er.

Informatiker Schahram Dustdar war beruflich in vielen Ländern der Erde unterwegs. Er ist der Ansicht, dass sich gewisse Smart-City-Konzepte mit der Zeit global durchsetzen und wir schon bald eine Art Standardisierung oder auch Baukastenlösungen erleben werden. Interessante Projekte gebe es im Mittleren Osten, etwa in Abu Dhabi oder Dubai; auch in China werde viel mit Smart Cities experimentiert, berichtet Dustdar. Allerdings gilt China aufgrund der weitreichenden staatlichen Überwachung mittels Gesichtserkennung vielen als Negativbeispiel.

Was darf der Staat über die Menschen wissen?

Die Problematik, dass digitale Technologien für Überwachungszwecke verwendet werden können, erkennt auch Stadtplaner Thomas Madreiter. Entscheidend sind für ihn die politischen Bedingungen in einer liberalen Demokratie: „In Österreich begegnen Menschen einander auf Augenhöhe – das Bild vom Staat als überwachendes System sollte uns nicht leiten.“ Er hält aber auch nichts von Smart-City-Lösungen, die auf eine „Cockpit-Perspektive“ setzen, bei der wenige Menschen viele beobachten und bewerten. Generell sei es kein Problem, dass der Staat Daten nutze, findet Schahram Dustdar. Vielmehr gehe es um grundlegende Fragen: Mit welchen Absichten werden die Daten genutzt? Welches Menschenbild liegt ihrer Verwendung zugrunde? Bei der Vernetzung digitaler Daten stehe schließlich immer deren „Nutzbarmachung“ im Vordergrund, ob durch den Staat zum Wohl der Bevölkerung oder durch IT-Konzerne wie Google oder Facebook für ihre Geschäftsinteressen.

Der Privacy-Experte Peter Kieseberg von der FH St. Pölten sieht Smart-City-Technologien kritisch, vor allem wenn sie zur Terrorbekämpfung eingesetzt werden. Der Staat sollte davon absehen, einzelne Menschen zu tracken, fordert er. Falls über Methoden wie Gesichtserkennung im öffentlichen Raum nachgedacht werde, müsse es dafür strenge rechtliche Rahmenbedingungen geben. Auf europäischer Ebene sei man sich dieser Problematik bewusst und versuche aktiv gegenzusteuern, sagt Datenexpertin Marlies Temper. So soll die EU-Verordnung über Künstliche Intelligenz („AI Act“) etwa die Bewertung einzelner Personen hinsichtlich ihres Verhaltens verhindern, wie dies in China geschieht. Bereits mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) habe die EU dafür einen wichtigen Grundstein gelegt, sagt Privacy-Experte Kieseberg. Denn darin stehe ausdrücklich, dass die Datensouveränität beim Individuum liege. Hier sei ein deutlicher Unterschied zum chinesischen Datenverständnis erkennbar.

Kieseberg und Temper sind sich einig: Auf keinen Fall sollte die Angst vor Überwachung uns davon abhalten, die Entwicklung von Smart Cities voranzutreiben; allerdings müsse der Fokus auf der großen Menge an verfügbaren Daten liegen, die ohne Personenbezug sind. Nach ihrer Ansicht sollte die öffentliche Verwaltung vor allem bestehende Projekte fördern und in die Ausbildung zukünftiger Expertinnen und Experten investieren. Damit die digital vernetzten, „smarten“ Städte der Zukunft auch lebenswert sind.

Transformation.

Österreichs Städte und Gemeinden im Sinne des Klimaschutzes und der Nachhaltigkeit zu umzugestalten – das ist das Ziel der „Smart Cities Initiative“. Bisher wurden 155 Stadtprojekte und zwölf Begleitmaßnahmen durch den Klima- und Energiefonds gefördert.

www.smartcities.at